Da auch dieser Text nicht in Böhmes eigener Handschrift überliefert ist, können wir uns auf die Authentizität des Titels dieses kleinen Werkes nicht gänzlich verlassen. In Frankenbergs Vita (I; 16) wird das Werk unter diesem Titel geführt. Das Wort „Beschaulichkeit“ hat einen leichten semantischen Wandel hinter sich. Ist uns heute „beschaulich“, was angenehm zu sehen ist, etwa ein altes Fachwerkdorf in schöner Landschaft, die wir womöglich unberührt finden, was zugleich Ruhe und Frieden ausstrahlt, so war die „Beschaulichkeit“ in der frühen Neuzeit die entrückte, meditative Haltung des in die metaphysische Ferne blickenden Menschen. Caspar David Friedrichs Figuren blicken so auf die Ostsee hinaus, indem wir sie zumeist nur von hinten sehen. Hängt Beschaulichkeit heute sehr vom Objekt ab, war Beschaulichkeit früher das meditative Vermögen, hinter den Dingen Religiöses zu sehen.
Darauf weist auch der Untertitel: „Was Mysterium Magnum, und wie alles von, durch, und in GOtt sey, wie GOtt allen Dingen so nahe sey, und alles erfülle.“ Die Herausgeber von 1730 halten das Werk für unvollendet (vgl. Nota am Schluss nach 4;5, sowie in Ausführlicher Bericht V, 37), und so wirkt es auch. Dafür enthält es Formeln und Formulierungen, die Böhmes System zum Stand um 1622 trefflich zusammenfassen.
Dieses kleine Fragment ist zu Anfang ein Dialog zwischen der „Vernunft“, die abstrakt und ohne erkennbare allegorische Gestik spricht, oder sagen wir: in wohltemperierter Fassung Fragen stellt, und einem ebenso abstrakt bleibenden „Antwort“-Geber, unter dem wir uns Böhme selbst vorstellen können. Es ist in diesem Traktat etwas über Böhmes Vernunft-Begriff zu erwarten. Die Vernunft habe viel von GOtt reden hören, so sagt sie, aber: „ich habe noch keinen gesehen oder von einem gehöret, der GOtt habe gesehen“ (1; 1). Die „Antwort“ zielt auf die Naturbehaftung der Vernunft, aus der sie nicht heraus kann, sie ist eine „verlassene Vernunft“ (1; 4):
„So hat der eigene Wille des Lebens darein (in die Vernunft –TI) gewilliget, und die Sinnen als die ausgehende Lust darein geführet; und sich in Begierde zur Eigenheit eingeführet, und sich in die Selbheit gepresset oder gefasset.“ (2;5)
Das geistige Instrument dieses individuellen und im Menschen vereinzelten „Willens“ ist die Vernunft, sie ist sein Anhängsel und von ihm abhängig. Sie bezieht alles ohne relative Abhängigkeit auf das Subjekt, dem die Prinzipien des Gut und Böse nur subjektiv das Gefühl vermitteln, was jeweils gut tut oder böse ist. Die Vernunft stellt daher die Frage nach dem Sinn des Bösen:
„Die Vernunft spricht: Warum hat GOtt ein peinlich (schmerzvolles – TI) leidend Leben geschaffen? Möchte es nicht ohne Leidenund Qual in einem besseren Zustand seyn, weil Er aller Dinge Grund und Anfang ist? Warum duldet er den Wiederwillen? Warum zerbricht er nicht das Böse, daß allein ein Gutes sey in allen Dingen?“ (1;7)
Böhme holt nun nicht bis zu Adam und Eva aus, zu jenem Paradies, in dem es vor dem Fall Adams nichtst Böses gab, und unterlässt jede Erbschuld-Frage, sondern rechtfertigt mit einer dialektisch anmutenden Geste:
„Antwort: Kein Ding ohne Wiederwärtigkeit mag ihme selber offenbar werden: Dann so es nichts hat, das ihme wiederstehet, so gehets immerdar vor sich aus, und gehet nicht wieder insich ein: So es aber nicht wieder in sich eingehet, als in das, woraus es ursprünglich gegangen, so weiß es nichts von seinem Urstand.“ (1; 7 und 8)
Die Vernunft formuliert modern gesprochen das Partikularinteresse der Subjekte in ihrer Welt. Begegnet ihnen etwas als „böse“, so muss es dies im Zusammenhang aller Dinge nicht sein, und was dem einen gut, ist dem andern böse. Nur in Kontrast zu anderen Dingen werten die Subjekte etwas als „böse“, demgemäß nämlich, ob es ihrem Willen, wie Böhme sagt, entspricht oder nicht.
Mit „Beschaulichkeit“, mit meditativer Entrückung lässt sich verstehen, dass die Willenlosigkeit erst den Unterschied zwischen Gut und Böse aufhebt:
„Dann von GOttes Sprechen ist das Leben ausgangen, und in Leib kommen, und ist anders nichts als ein bildlicher Wille GOttes: Ists nun, daß das eigen Selber-Bilden und Wollen stille stehet, so gehet das Göttliche Bilden und Wollen auf: Dann was Willen-los ist, das ist mit dem Nichts Ein Ding, und ist ausser aller Natur, welcher Ungrund ist GOtt selber.“ (2;20)
Auf einen einzigen Satzteil, den ersten des letzten Zitats, zieht sich Böhmes gesamte Schöpfungslehre hier in nuce zusammen, die sprachphilosophische „Qualitätenlehre“ (siehe dort), dernach die sechs göttlichen Qualitäten die siebte erzeugen, die sichtbare Welt, erzeugen im Sinne eines Aussprechens. Alle Dinge sind versteinerte Worte Gottes. Wenn wir uns solcher Sprache gewahr werden, in „Beschaulichkeit“, dann könnten wir willenlos werden, und werden mit dem Nichts „Ein Ding“. Dieses Nichts besetzt Böhme oft mit dem Begriff des „Ungrunds“.
„Ein iedes Ding, es sey Kraut, Gras, Bäume, Thier, Vögel, Fisch, Würme, oder was das immer sey, ist nütz, und ist aus dem Separator aller Wesen, als aus dem WORT oder schiedlichen Willen GOttes gegangen, damit ihme der Separator iedes Dings Eigenschaft hat ein Gleichniß oder Bild gemachet, darinnen er wircket.
Dan diese sichtbare Welt, mit allem ihrem Heer und Wesen, ist anders nichts, als nur ein Gegenwurf der Geistlichen Welt, welche in dieser materialischen, elementarischen verborgen ist, gleichwie die Tinctur in Kräutern und Metallen.“ (3;34 und 35)
Tinktur, bei Böhme ein zentraler,wenn auch schwer zu verstehender Begriff aus paracelsischem Umkreis, der jedoch hier nur aufgegriffen wird, müssen wir uns für diesen Zusammenhang als göttliches Fruchtwasser im Schöpfungsvorgang vorstellen. Selten denkt Böhme derart knapp und zugleich ganzheitlich wie in diesem Fragment. Selten aber auch bringt er viele seiner Gedanken gut auf den Punkt, einen Meditationspunkt, dessen Umschreibungen uns wie ein Mantra durch das Werk Böhmes tragen können.
Umfang: 35 Seiten, Sämtl. Schriften Band 4.
Überliefert in mehreren Abschriften. Zur Zeit beste Ausgabe: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Will-Erich Peuckert/August Faust. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Vierter Band. Stuttgart: Friedrich Frommanns Verlag, 1957.