Böhmes Werk „Psychologia vera“ oder „40 Fragen von der Seelen“ hat einen Sonderstatus in seinem Gesamtwerk. Es besteht nur aus Antworten auf Fragen, die ihm gestellt wurden, es ist daher ein Anlasswerk, ein großes Interview. Es befasst sich – historisch zwischen Renaissance und Aufklärung - mit dem zeitgenössischen Begriff von „Seele“. Für uns ist es ein Dokument der Psychologiegeschichte.
Im Kommentarteil der Sämtlichen Schriften von 1730 heißt es: Der Mediziner Balthasar Walther habe diese 40 Fragen „…aufgesetzet, und selbige an viele Gelehrten der Europäischen hohen Schulen gelangen lassen, mit Ersuchen“(Bericht V, 31), diese Fragen zu beantworten. Die Rücksendungen lieferten ihm jedoch nicht das „erhoffte Vergnügen“ (ebda.). Daher habe er sich 1618 an den erleuchteten Laien Jacob Böhme gewandt. Das Werk hat also bereits in der Entstehung einen zeitgenössisch antiakademischen Impuls.
Der lateinische Titel stammt, wie die aller seiner Schriften, nicht von Böhme selbst; sie wurden nachträglich – wohl von seinem Freund Balthasar Walther – verliehen. Dies folgt der Tradition des Paracelsus, der ebenfalls – ungewöhnlich für seine Zeit – deutsch schrieb und lateinische Titel verwendete. Balthasar Walther (1558 – 1630) war Paracelsus-Kenner, von dem wir annehmen, dass er dem jüngeren und nichtakademisch gebildeten Böhme alchimistisches und paracelsisches Gedankengut gleichsam im Privatunterricht vermittelt hat. Er stellte Böhme also die vierzig Fragen über die Seele, die Böhme allesamt geduldig, folgsam und ausführlich in einem Zeitraum von 1618 bis 1620 beantwortete. An dieser Situation ist bemerkenswert, dass hier ein Mediziner den Laien um Antwort bittet, nicht umgekehrt. Die Fragen eines Arztes wenden sich gewöhnlich an einen Patienten. Hier aber ist der Laie nicht Patient, sondern Lehrer. Die Antworten des als „erleuchteter“ Weise auftretenden Laien sagen ihm, dem weltreisenden Arzt, der kurz zuvor eine Orientreise absolviert hatte, mehr und wichtigeres über die Seele als die Institutionen der Wissenschaft. (1)
Dieser aber wurde Böhmes Werk später entgegen gehalten. Die „40 Fragen von der Seelen“ war das erste des Böhmischen Oevres, das in eine andere Sprache übersetzt wurde. Johann Angelius Werdenhagen (1581 – 1652), wiederum ein Schüler Walthers, übertrug das Werk ins Lateinische, mithin in die Gelehrtensprache, und ließ es 1632 in Amsterdam erscheinen.(2)
Eine nicht beweisbare, aber von den Herausgebern der Sämtlichen Schriften 1730 besonders betonte Begebenheit rankt um dieses Werk. Balthasar Walther vermisste in den Antworten offensichtlich tiefergehende Ausführungen Böhmes über den Verbleib der Seelen bei Anbruch des Jüngsten Gerichts. Böhmes Antwort zur 30. Frage berührt diesen Punkt, doch wohl nicht hinreichend. Diese Ergänzung habe er, so die Herausgeber, als eigenes Manuskript nachgereicht, das Walther zur späteren Verwendung in seine Geburtsstadt Groß-Glogau mitnahm. Dort soll es im verheerenden Stadtbrand 1622 den Flammen zum Opfer gefallen sein. Ausgerechnet von dieser Handschrift gab es keine Kopie. Das verbrannte Manuskript erlebte so seine eigene Apokalypse.
In der frühen Neuzeit wirkte noch ein aus der Antike stammender Seelenbegriff. Die griechische Übersetzung der Psyche für „Hauch“ (lat. Anima ist verwandt mit gr. anemos = Wind) weist in zwei Richtungen des antiken und mittelalterlichen Seelenbegriffs: Die Seele ist jedem Menschen gleichsam von außen eingehaucht. Sie ist dadurch im Leben des Menschen etwas überindividuelles, von außen Gegebenes. Wir sind „beseelt“ von etwas, das außerhalb von uns selber einen größeren, wie auch immer interpretierten Zusammenhang bildet. Balthasar Walther erwähnt in seiner vierten Frage das „Einblasen“ der Seele in den Menschen. Ferner lebt sie nach unserem Tod weiter, in einem Jenseits, dessen näheres Verständnis sehr von der konfessionellen Matrix abhängt, sei sie antik, sei sie christlich. Seelenleiden als Krankheit war den Menschen weniger geläufig als Seelenleiden aufgrund falscher Vorsorge für ihr Weiterleben nach dem körperlichen Tod. In genau diese beiden Hälften, Seele als Verbindung zu einer Ganzheit, und Seele als jenseitige Lebensform des Menschen, teilt sich dieses Werk Böhmes auf. Bis Frage 18 geht es um die „Essenz“ und Eigenschaft der Seele, ab Frage 19 hauptsächlich um ihr Weiterleben nach dem Tod. Die Legitimation dieser „Psychologia vera“ liegt in ihrer Vermittlung als universelle Heilslehre, nicht zur Heilung von Krankheiten.
Das Wort „Krankheit“ fällt in Böhmes 40 Antworten denn auch an keiner Stelle. Er kennt auch keinerlei „Geschichte“ einer individuellen Einzelseele. Wesenhafte Dispositionen, Krankheiten oder individualpsychologische Prägungen bespricht Böhme in einem späteren, kürzeren Werk mit dem Titel „von vier Complexionen“. (siehe Erläuterungen dort).
Der Begriff „Seele“ wird in vielen seiner Werke verwendet, er markiert einen der wichtigsten. Das Begriffsregister zu den Sämtlichen Schriften führt das Wort „Seele“ extrem häufig auf. Es ist das Wort mit den zweitmeisten Nennungen im Gesamtwerk („Christus“: 17 Seiten, „Seele“: 9 Seiten, „Gott“ und „Mensch“ jeweils 8 Seiten, dann bereits abgeschlagen „Lucifer“ mit 4 Seiten Stellennachweisen). Es lohnt sich also eine genauere Betrachtung.
Die 40 Fragen, die Balthasar Walther ihm stellte, werden von Böhme unterschiedlich lang beantwortet. Für die Antwort auf die erste Frage benötigt er 62 Seiten, bzw. 281 Absätze, für alle anderen Fragen durchschnittlich nur ein bis zwei Seiten. Seltsam ist, dass bei Beantwortung der ersten Frage (sie lautet: „Woher die Seele vom Anfange der Welt entstanden?“) das Wort „Seele“ zunächst kaum vorkommt (bis Absatz 185 auf Seite 46 gar nicht), dann aber, in einem Anhang zu der ersten Frage, der den Titel trägt „Das umgewandte Auge“, in massiver Häufung. Warum ist das so?
Die lange Antwort Böhmes zur ersten Frage weist eine weitere Besonderheit auf. Der Text enthält die einzige uns bekannte grafische Darstellung seiner Lehre, deren Skizzierung mit hoher Wahrscheinlichkeit von Jacob Böhme selber stammt. Diese Annahme liegt nahe, weil er die Grafik, die im Text „philosophische Kugel“ genannt wird, ausgiebig selber beschreibt. Auf der nebenstehenden Abbildung – bitte 2 x klicken, um zu vergrößern – ist genau zu sehen, wie zentrale Begriffe und Zeichen seiner Philosophie auf diesem Blatt verteilt sind und in Bedeutung zueinander stehen. Die Ziffern erscheinen in numerischer Reihenfolge ihrer Erläuterung, Böhme erklärt das Gebilde entlang der Zahlen, deren Reihenfolge jedoch schwer nachvollziehbar, vielleicht teilweise beliebig ist. Die Grafik gibt den Systemstand von Böhmes Denken um 1620 wieder. Deutlich ist das in diesen Jahren präferierte Dreiersystem zu erkennen, wie es die Werke „Von den drey Prinzipien“, „Vom dreyfachen Leben des Menschen“ oder „Von der Menschwerdung Jesu Christi“ erschreiben. Im Erstling, „Aurora“ (1612), in „de signatura rerum“ (1622) oder im heimlichen Hauptwerk, dem „Mysterium Magnum“ (1623) dominiert das Siebenersystem der Qualitätenlehre, in das freilich das Dreierprinzip eingeflochten ist (vgl. unsere Ausführungen).
Auf der Grafik ist zu erkennen, dass das Wort „Seele“ vier Mal vorkommt, zwei Mal in der Nähe der beiden Halbkreismittelpunkte, auf der dunklen Seite zusätzlich bei der waagerechten Kreuzachse mit „Der Seelen Wille“, auf der hellen Seite über dem Wort „Seele“ noch einmal als „Der SeelenEwige". Diese Gegenläufigkeit der zwei Halbkreissysteme deutet auf eine doppelte Ausrichtung der Seele.
Reihen wir einige Definitionen zur „Seele“ aus diesem Werk aneinander:
„Wann ein Zweig aus dem Baume wächst, so ist seine Gestalt dem Baume gleich; er ist wol nicht der Stamm noch die Wurtzel, aber seine Gestalt ist doch gleich dem Baume. Also auch, wann eine Mutter ein Kind gebieret, so ists ein Bild nach ihr. Und das kann nicht anders seyn…Also ist uns zu erkennen, in was Form die Seele sey, als nemlich einer runden Kugel, nach Gottes Auge, durch welche das Creutz gehet, und theilet sich in 2 Theil, als in 2 Augen, welche rücklich (Rücken an Rücken – TI) stehen, wie wir oben haben eine Figur mit dem zweyfachen Regenbogen gemachet…(auf der Grafik – TI).“ (5;1-3)
„Also verstehet uns recht: die Seele an ihr selber ist eine Kugel mit einem Creutze, mit zwey Augen, ein heiliges Göttliches, und ein höllisches grimmiges im Feuer, das soll sie zu thun, und verborgentlich, durch die Angst als durch den Tod im andern Principio damit in der Liebe regieren.“ (5;8)
„Und dann … ist die Seele nach dem gantzen Leibe formiret, mit allen Gliedern; das verstehe also: die Seele ist der Stock als die Wurtzel; die siehet gleich dem Centro der Drey-Zahl als ein Auge, eine Kugel, ein Creutz…“ (5;10)
In fast allen Definitionen Böhmes zur Seele fallen die Begriffe Kugel, Kreuz und Auge. Böhme denkt sich diese bildlichen Begriffe ineinander. Dass die Kugel wie ein Auge sei, bereitet unserem Vorstellungsvermögen wenig Schwierigkeiten. Das Kreuz teilt die Kugel und verbindet die Kugelhälften. Am Angelpunkt des Kreuzes liegt auch der Mittelpunkt der Kugel, in der Grafik herausgehoben als Herz (Christi) gekennzeichnet. Mit ein wenig Phantasie lassen sich Auge, Kreuz und Kugel der christlichen Trinität aus Vater, Sohn und Heiligem Geist zuordnen. Daraus folgt als erste Erkenntnis: Die ewigen Prinzipien der Schöpfung wiederholen sich – gleichsam wie deren DNA – in jedem Menschen. Wie diese Prinzipien die gesamte Natur und Schöpfung ausrollen, so verbindet sich die Seele mit dem Menschen und seinem Leib. Die Seele ist bereits zu Lebzeiten des Menschen die Verbindung zwischen seiner Welt (Mikrokosmos) und der ganzen Schöpfung (Makrokosmos), ähnlich wie auch Paracelsus dies formulierte.
In der ersten zitierten Definition spricht Böhme von zwei Augen, die in der Seele jeweils mal in die eine, mal in die andere Richtung sehen. Das eine Auge blickt zur „finstern Welt, da sich das Wunder-Auge in Natur einführet, …“, das andere Auge blickt auf „die Licht-Welt.“ (1;113)
Die Seele ist daher nicht mit dem Göttlichen identisch, insofern es für das Licht der Erlösung steht. Die Seele wiederholt in sich das Göttliche, insofern auch dieses in sich Finsternis und Licht enthält und aushalten muss.
„Die Seele ist ein Auge in dem ewigen Ungrunde: Eine Gleichniß der Ewigkeit; Eine gantze Natur und Bildniß nach dem ersten Principio, und gleich GOtt dem Vater nach seiner Person, nach der ewigen Natur.“ (Das Umgewandte Auge 1)
„Jetzt ist Streit um der Seelen Bildniß: und welche Gestalt überwindet, das Feuer oder die Sanftmuth der Liebe, nach derselben wird die Seele qualificiret, und ersiehet auch eine solche Bildniß aus der Seelen, wie der Seelen Willen qualificiret ist. Und ist uns zu erkennen, daß, so sich der Seelen Willen verändert, so wird auch ihre Gestalt verändert, dann, so der Seelen Qual feurig wird, so erscheinet auch eine solche feurige Bildniß.“ (Das Umgewandte Auge 8)
Böhmes Art zu schreiben fällt ihm manchmal ins Wort. Die Begriffe erzeugen hier genauso wenig wie in anderen Werken replizierbare und systemgebende Definitionen, sie sind keine festen Bausteine. Die semantischen Bezüge klingen unscharf und manchmal widersprüchlich. Eine gewisse Evidenz stellt sich ein, wenn wir die Passagen neben einander stellen und betrachten wie Wortgrafiken.
Der Streit „UM der Seelen Bildnis“ (nicht IN der Seelen Bildnis) deutet auf eine kosmische Dramatik hin, die sich in der Seele wiederholt und in jedem Menschen fortpflanzt. Als Auge verbindet die Seele sich mit dem Göttlichen durch das gegenseitige Sehen. Das Wort „Bildniß“ ist daher wörtlich zu nehmen als gewisse Wiederholung des Ungrundes Gottes in der Einzelseele. Diese kann im Feuer verharren oder sich zum Licht „qualifizieren“. Lautmalerisch bezieht Böhme überall in seinem Werk Quelle, Qual und Qualität inhaltlich aufeinander.
Die Seele wird getrieben durch den Willen. Der Wille, der hier wie stets bei Böhme als nicht blinder, sondern sehender (Auge!) mit dem Prinzip des finsteren Gottes verbunden ist, steuert die Seele und ihr Verhalten. Es sind jene Passagen bei Böhme, wenn es um diesen Willen im Ungrund geht, um die Seele als „Wille zum Feuer“ (17;7) in denen er fast ohne christliches Vokabular auskommt. Zweihundert Jahre vor Schopenhauer und dreihundert vor Sigmund Freud verlässt hier ein Philosoph die mittelalterliche Trennung von Seele und Körper, von Gut und Böse, und konnotiert den Willen mit dem lichtlosen, aber feurigen Trieb, indem er, Böhme, die Seele moralisch indifferent interpretiert, und indem er ihren Antrieb frei stellt:
„Aber ihr Wille ist frey; entweder in sich zu ersincken, und sich nichts zu achten, sonder als ein Zweig aus dem Baume grünen, und von GOttes Liebe essen; oder in ihrem Willen, im Feuer aufsteigen, und ein eigener Baum zu seyn: und davon sie isset davon kriegt sie auch Wesenheit, als Leib der Creatur.“ (2;2)
Hier formuliert Böhme sehr scharf konturiert: Ihr Wille ist frei, sie selber jedoch nicht:
„Aber weil die Seele im irdischen Leben steckt, so ist sie nicht frey, Ursach, der irdische Geist führet immer seine Greuel mit seiner imagination hinein, und muß der Geist immer im Streit wieder das irdische Leben stehen.“ (15;7)
Der Leib, auch die Konstitution des Menschen, ist das Gehäuse der Seele, ihre „Complexion“ (siehe die Schrift „Von vier Complexionen“). Die Seele als „Auge“ wird Opfer des finsteren Willens, den Böhme als Feuer ohne Licht versteht, und sie kann erst „sehen“ im Licht der hellen Welt.
„Der Geist ist nicht von der Seelen abgetrennet, nein, gleichwie ihr sehet daß Feuer und Leuchten nicht getrennt ist, und ist doch auch nicht eines: es hat zweierley Qual, das Feuer ist grimmig, das Licht sanfte und lieblich, und im Lichte ist das Leben, und im Feuer ist die Ursache des Lebens.“ (17;10)
Die zum Licht qualifizierte Seele heißt bei Böhme „Geist“. Er ist die sehende Seele, die sich als „Auge“ gleichsam erkennen kann. Böhme – so dürfen wir vorsichtig zusammenfassen – beschreibt einen Sublimationsvorgang, bei dem die Läuterung der blinden Seele im unsichtbaren Feuer, den er auch als Willen bezeichnet, hin zum Prinzip des Geistes im Licht einer – freilich christlich gedachten – Erlösung sich entwickeln kann. Hierin hat Böhme den Heilungsprozess seiner „Psychologia vera“ bechrieben.
Die 26. Frage lautet: „Ob sich die Seele der Verstorbenen um Menschen, Kinder, Freunde und Güter bekümmere, und ihr Fürnehmen (Verhalten – TI) wisse, sehe, billige oder unbillige?“
Böhme zögert zwei Seiten lang mit der Antwort, bis er verneint: Nein, die himmlischen Seelen nehmen nur Dinge unter ihresgleichen wahr, und nicht mehr das Irdische, denn:
„Die Seelen sehen wol, wie sich GOttes Geist in die Seele eindringet; so ihme der Seelen Wille nur Raum und Stätte darzu gibt, es (be)darf keines Engels Gebet…“ (26;26)
„Also geben wir euch zur Antwort auf diese Frage, als in Summa, daß ja die heiligen Seelen um unsere heilige Wercke wissen und sie billigen; aber um die falschen nehmen sie sich nicht an, dann sie wohnen in einem anderen Principio: Es kommt kein böses Werck hinein, das sehen sie auch nicht, fragen dem auch nicht nach, was dem Teufel zustehet, sie erkennens auch nicht, alleine nur das was in ihr Principium langet.“ (27;32)
Die Seelen im Jenseits sind befreit von dem Streit, in welchem sich die Seele auf der Erde befindet. Wir, die Lebenden, sind befreit von der Furcht, dass die Seelen der Verstorbenen uns in unseren Fehltritten sehen. Nur im Guten erkennen sie uns. Mit Beispielen aus Politik und Vergleichen aus einer mystischen Erotik resümiert Böhme:
„Wir wissen nichts mehr von unsern Eltern oder Kindern, oder Freunden, welche in der Höllen sind. (…) Wir sind alle GOttes Weib, Er ist unser Mann, Er säet seine Kraft in uns, und wir gebähren ihme Lob und Ehre: Es sind gleichwol Reihen (Reigen – TI) und Singen, als die Kinder pflegen zu thun, welche aneinander hangen und singen einen Reihen. (…) Ein König gilt da nichts mehr als ein Bettler; so er wol regieret hat, so folgen ihme seine Tugenden nach, und wird dessen Ruhm in der Majestät haben, dann er erlanget eine schöne Glorifizierung, als ein Hirte seiner Schäflein: Ist er aber böse gewesen, und doch endlich belehret worden, (…) so bleiben seine königliche Wercke im Feuer, und wird alhier nichts mehr als ein Bettler seyn oder gelten, der fromm gewesen ist, und noch nicht so schöne.“ (32;5 - 11)
Regenten also widerfährt im Jenseits eine Aufbewahrung, die sich an den Regierungsqualitäten zu Lebzeiten orientiert: Waren sie „gute“ Regenten, so werden sie im Himmel hervorgehoben; waren sie „böse“, so landen sie in der Hölle – das wäre wenig originell. Bekennt der Regent sich aber zu seinen schlimmen Taten, so wirken diese Werke weiter, sie sind also durch die Bekehrung nicht ungeschehen gemacht worden, aber die Seele des Regenten wird im Jenseits seiner Majestät beraubt und wäre nicht mehr als ein frommer Bettler.
Woher weiß Böhme all dies? Woher nimmt er das Wissen um diese teils originelle, teils traditionelle Jenseits-Sicht, die in sich geschlossen wirkt und genau in die Argumentationsform anderer Werke passt? Oder anders gefragt: Worin liegt die Überzeugungskraft dieser Phantasien, soweit sie von Balthasar Walther und Jacob Böhme der Wissenschaft ihrer Zeit entgegen gehalten werden? Im Jenseits gilt:
„Alle Kunst wird nicht geachtet: wisset aber dieses, daß diejengen, welche alhier das Mysterium getragen, und ihnen eröffnet worden, daß sie auch grosse Weisheit und Witze vor andern haben werden, und den andern vorgehen; Zwar nicht im Zwang oder Lehre, sondern ihre Weisheit fänget allerley Übungen aus dem himmlichen Mysterio an, daß also die Freude aufgerichtet wird.“ (32;9)
Böhme versetzt sich selber in den Kreis der Weisen da er bereits zu Lebzeiten in die „Mysterien“ eingeweiht war, oder, im Sinn dieser Schrift formuliert, Psychologie heilt nicht als Wissenschaft und Lehre, sondern beschreibt einen Heilsprozess, zu dem jeder Mensch selbst befähigt sei.
„Der Verstand wird in GOtt geboren, nicht auf den Schulen der Kunst, wiewol wir die nicht wollen verachten; dann so die Kunst in GOtt geboren wird, so ist sie ein zehenfältig Mysterium, dann sie erreicht allezeit die zehente Zahl in der Witz, vielmehr als der Laye, dann sie kann aus vielen Zahlen eine machen: Aber es stehet nicht in eigenem Vermögen, nein, der Eingang aufs Creutze muß bey einem seyn als beym andern, er sey Doctor oder Laye, in GOttes Geheimniß hats keine Doctores sondern nur Schüler; aber dennoch kann ein gelehrter Schüler weit kommen.“ (38;20)
Böhme trägt zur Emanzipation der Psychologie von der Theologie bei. Naturprozesse werden in die Dispositionen der Seele verlegt, so wenn er der Seele einen Willen unterlegt, der in der Natur wirkt, im Leben selber ein wichtiges Prinzip darstellt und damit Modelle der modernen Psychologie ankündigt. Ihr Ziel ist jeweils die einer jeden Seelenkunde:
„Alles was Freude ist, das wird gesuchet, und wo eins dem andern kann Freude machen, da ist sein Wille geneigt.“ (40;8)
(1) Vgl.: Leigh T.I. Penman: Böhme’s Student and Mentor: the Lignitz Physician Balthasar Walther (c.1558-c.1630). In: Offenbarung und Episteme, hrsg. v. W. Kühlmann u. F. Vollhardt, Berlin/Boston 2012, S. 47-66.
(2) Vgl.: Jost Eickmeyer: Ein Politiker als Böhmist. Johann Angelius Werdenhagen (1581-1652) und seine Psychologia Vera JBT (1632). In: Offenbarung und Episteme, S. 67-92
Umfang: 184 Seiten, Sämtl. Schriften Band 3.
Überliefert in mehreren Abschriften. Zur Zeit beste Ausgabe: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Will-Erich Peuckert/August Faust. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Dritter Band. Stuttgart: Friedrich Frommanns Verlag, 1942.