Über die Werke

Vom dreifachen Leben des Menschen

 

Vom dreifachen Leben des Menschen


Advent 1619 meldet Jacob Böhme seinem adeligen Förderer, Carl von Endern, den Beginn der Niederschrift eines neuen Werkes, (vgl. Ep. 5;9) die Fertigstellung an Abraham von Sommerfeld im Jahr 1620 (vgl. Ep. 10;11). Vielleicht bezieht sich die Notiz an seinen Freund Christian Bernhard, von einem „mitgesandten Buche“ vom 12. 9. 1620, auch auf die Fertigstellung des rund 340 Seiten umfassenden Werks vom „dreifachen Leben des Menschen“.  

Das „dreifache Leben“ vermenschlicht die Dreifaltigkeit und vergöttlicht den Menschen. Das ‚Dreieck‘ als Matrix einer geistigen Geometrie wirkt in jede Faser der Böhmischen Gedanken hinein und baut in der Architektur seiner Schriften mehrfach dreiseitige Fundamente: Das große Werk von den „drei Prinzipien göttlichen Wesens“ bildet mit dem nächstfolgenden vom „dreifachen Leben des Menschen“ und dem dritten Werk dieser Periode, den „40 Fragen von der Seele“ eine philosophische Trilogie, bei der vom Kosmos mit seinen Prinzipien auf den Menschen geschaut wird, schließlich in die Seele.(1) Wie bei einem Zoom schaut diese Trilogie immer genauer in den Menschen hinein. Nach ihr erscheint mit der dreiteiligen, kleineren Trilogie „Von der Menschwerdung Jesu Christi“ eine christologische Geschichtsphilosophie, die ihrerseits drei Dimensionen kennt (siehe unsere Einführung dort).

Die Ordnung der Dreiheit, die bei Böhme in diesen Jahren, 1618 bis 1620, Werk und Gedankenführung strukturiert hat, beansprucht einen Systemcharakter, der über eine expressive oder subjektive Mystik hinaus geht. Andererseits enthält gerade dieses Werk vom „dreifachen Leben des Menschen“ emanzipativ-subjektive Ausbrüche aus schier jeder Form von Ordnungs-Zwang, die Böhmes Engagement in eine strikte Kirchengegnerschaft und in eine libertäre Tradition versetzt.

Es geht ihm im „dreifachen Leben“ um den Menschen, und, wie noch gezeigt wird, um jeden Menschen, gleich welcher Religion, und um seine Einbindung in Natur und Übernatur.  Die Souveränität der Werkanlage als Wiedergabe des Menschen in seiner lebensgeschichtlichen  Ganzheit steht in der Kapitelstruktur zu lesen: Kapitel 1 heißt „Vom Urkund (Ursprung – TI) des Lebens: Item von der ewigen Geburt des Göttlichen Lebens“, es folgen in den Kapitelüberschriften wohlkalkulierte Stichworte wie „Gebärerin“, „Leiblichkeit“, „Wie wir das Verlorne wieder suchen müssen“, „Trieb“, „Regiment“, rechte Erkentniß“, „Jammerthal“, „Antichristliche Kirche“, aktuelle „Bosheit“ der Welt, „Beten und Fasten“ im Sinn einer Reinigung, und zuletzt: „Vom Tode und Sterben“. Philosophisch wird nicht über das, sondern über unser Leben reflektiert.  

Erkenne Dich selbst

„Dem Menschen ist in diesem Jammerthal auf Erden nichts nöthiger und nützlicher, als daß er sich lerne selber kennen, was er sey, von wannen er sey, oder wohin er wolle? Was er werde, und wo er hinfahre wenn er stirbet? Einem ieden ist das am nützlichsten zu wissen? Denn der äussere Wandel bleibet in dieser Welt; aber was das Hertze fasset, nimt der Mensch mit.“ (12; 1)

Bereits die Vorrede zu den „drei Prinzipien“ beginnt mit diesem für jede Philosophie grundlegenden Muster der Selbsterkenntnis. Wir können recht genau Böhmes Quelle dieses antiken „Erkenne dich selbst“ angeben: Im oben genannten Brief an Abraham von Sommerfeld schreibt er kurz nach der Meldung, das Werk vom „dreifachen Leben“ sei fertig:

„Wegen der zwey andern Büchlein, als das Neue Testament und dritten Theil Gnothi seauton, wollet euch ein wenig gedulden, dann man hat sie ietzt nicht bey uns, bis nach der Leipziger Messe, habe ich Vertröstung, so sollen sie euch geschicket werden.“ (Ep. 10;14)

Nicht besser als in den Namen der geliehenen Bücher verbinden sich zwei kulturelle Räume im Leser Böhme: die christliche Bibel und ein Buch, dessen griechischer Titel den Kernsatz alter Philosophie zitiert, „erkenne dich selbst“. Mit großer Sicherheit wird es das Werk des Valentin Weigel (1533-1588) sein, der aufsässige, an Thomas Müntzer und Paracelsus geschulte Pfarrer zu Zschopau in Sachsen, der eine anonyme Schattenschriftstellerei gegen seine eigene Orthodoxie betrieb. Böhme kannte mehr als seinen Namen.(2) Es gab tatsächlich einen „dritten Teil“ von Weigels „Gnothi seauton“, allerdings hat die Forschung diesen dritten Teil als nicht von Weigel stammend eingestuft. Er erschien als Buch posthum 1618, pünktlich zu Beginn von Böhmes zweiter Schreibperiode.(3)  

Beide, Böhme wie Weigel, haben dabei einen Grundgedanken, der kurz dargestellt sei. Der Mensch ist ihnen der Kosmos im Kleinen, er enthält die Welt noch einmal in sich, ganz in der Entsprechung, die Paracelsus zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos sah. Den ganzen Kosmos zu erkennen, sei eine Anmaßung, die niemand leisten könne. Da aber jeder Mensch alle kosmischen Elemente in sich trägt, so kann er durch dieses „Erkenne dich selbst“ wie durch ein Nadelöhr auch versuchen, die großen Zusammenhänge zu erkennen. Das „Erkenne dich selbst“ entsteht aus der Demut gegenüber dem Kosmos, den zu erkennen unmöglich sei.

So sagt Weigel: „Ja, es ist besser, du erkennst dich selber, denn daß du alle Dinge weißt im Himmel und auf Erden.“(4)

So sagt Böhme: „Unser Schreiben langet nicht dahin, daß wir wollen die Gottheit in der ewigen Natur ausgründen; Nein, das kann nicht seyn, sondern daß wir wollen dem Blinden den Weg weisen, welchen er selber gehen muß: Wir können nicht mit seinen Füssen gehen (…).“ (2;46)

Das für Böhme so wichtige Argument, zwar viele Bücher, aber umsonst gelesen zu haben, weil sie ihn nicht weiterbrachten, findet in dem „Erkenne dich selbst“ eine Erklärung: Denn selbst kann nur ich mich erkennen, das können mir keine Bücher abnehmen. Von ihnen können wir lernen, aber uns und unsere Natur können wir nur durch Selbst- und Naturerfahrung erkennen:

„Du liebes suchendes Gemüthe, ich wollte dirs gerne in dein Hertze schreiben, könnte ich nur: siehe es ist alles nur Ein GOtt, du fragest aber, wovon das Böse kommt? So hast du dieses in dieser hohen Beschreibung eine Erkentniß; Dann du siehest in allen Creaturen Bosheit und Gift, und dann auch Liebe und Begierde: so dencke nur, wie die Natur also ein ernstlich Wesen sey.“ (3;25)

Im letzten Satzteil erhebt Böhme einen Zeigefinger, der uns an Ernsthaftigkeit und Respekt vor der Natur gemahnt, denn die Natur enthält die Antwort auf die Frage, die wir so gerne an das  Göttliche stellen: woher das Böse komme. Dieser Ansatz, die Natur zu befragen, wenn das Göttliche keine Aukunft mehr weiß, ist vollkommen konsequent aus „Drei-Prinzipien“-Lehre geschlossen, die Böhme in diesem Werk ein wenig vorauszusetzen scheint, da beide Werke aufeinander aufbauen.(5)

Die Unmöglichkeit, das „Erkenne dich selbst“ durch Kunst und Wissenschaft anzulesen, führt zu einer Böhmeschen Vernunft- und Wissenschaftskritik, die zunehmend im Verlauf des Gesamtwerks zwischen „Vernunft“ und „Verstand“ differenziert:

„Es ist alles ein Tand ohne Göttlichen Verstand, was die Vernunft in der Kunst dieser Welt suchet; sie findet nichts mehr als diese Welt, und doch noch nicht halb; sie gehet nur immer im Suchen, und findet endlich Hoffart und Gleißnerey, in deme sie weltliche Weisheit findet.“ (3;29)

„Verstand“ wird bei Böhme immer wieder positiv als das mit dem Göttlichen Verbundene bezeichnet, während „Vernunft“ eher diesseitig, materiell, als nüchterner Weltenträger der Negativität dargestellt wird. Verstand schließt die Emotion nicht aus. Für sie haben wir Verständnis. Emotionen können wir als Menschen emphatisch „verstehen“. Im Verständnis haben wir den Verstand der Menschlichkeit, als welche der „Göttliche“ Verstand auch bezeichnet werden könnte. Die „Vernunft“ ist bei Böhme für die emotionslose, kalte Wissenschaft zuständig, mit aller Gefahr, das menschliche Verständnis füreinander zu verlieren und in kalte Herrschaft, Hochmut und Kälte umzuschlagen. Durchaus ist „Vernunft“ bei Böhme mit dem Diabolischen verbunden.

Aus dem „Erkenne dich selbst“ lässt sich eine Warnung vor Entfremdung herauslesen: „Man spricht: Was die Augen sehen, das glaubet das Hertze; mit eigenen Augen ists gut sehen, der aber mit fremden Augen siehet zweifelt immer, ob der Geist recht oder falsch sey.“ (7;38) Zweifel, in dem die Zahl „zwei“ steckt, kennt kein Drittes, kennt keine Rettung, solange das Fremde in mir auf die Welt schaut. Ich bin nicht mit mir eines, weil ich mich nicht selber kenne. Die „fremden Augen“ Böhmes sind meine Blicke in Unfreiheit, fremdbestimmt, gelenkt, abgelenkt, weil wir uns verloren haben an das Fremde:

„Uns Menschen in dieser Welt ist daran am meisten gelegen, daß wir das Verlorene wieder suchen: so wir nun wollen suchen, so müssen wir nicht ausser uns suchen.

Wir dürfen (bedürfen - TI) keiner Heuchler und Ohren-Jucker, die uns trösten und viel güldene Berge verheissen, daß wir nur ihnen nachlauffen, und sie glintzend machen. (…)

Es ist auch nicht genug, daß du alle Bücher auswendig lernest: und wann du Jahr und Tag stündest, und läsest alle Schriften, und köntest gleich die Bibel auswendig, so bist du damit nichts besser als ein Säuhirte (…). Es hilft kein Schwätzen, daß du viel weist von GOtt zu reden, und verachtest die Einfältigen (…). Es darf keine Kunst oder Wolredenheit darzu seyn, du (be)darfst auch weder Bücher noch Kunst darzu, ein Hirte ist so geschickt darzu und noch viel besser (…).“ (7;1-8)

Das Verlorene, das wir suchen sollen, ist vor dem Zeithorizont Böhmes freilich das Paradies, theologisch gesprochen. Philosophisch gesprochen ist das Paradies, über das Böhme im Werk von den „drei Prinzipien“ ausgiebig schreibt, wiederum nur ein allegorischer Raum für die Sehnsucht, einer Entfremdung zu entgehen, der von sich selber. Das „Erkenne dich selbst“ führt nicht in  den Garten Eden der Kindheit zurück, weil der Baum mit der verbotenen Frucht jener der Erkenntnis von Gut und Böse war. Adam und Eva „erkannten“ sich nach der Vertreibung aus dem Garten der Unwissenheit in ihrer Nacktheit und schämten sich. Aber sie erkannten sich als Menschen mit ihren Fehlern.

Selbsterkenntnis fördert nicht nur Verständnis für andere Menschen, also Verstand am Humanen, sondern faltet das Ich auseinander und macht es lesbar. „Vermahnen demnach den Leser, er wolle in sich gehen, und sich in dem inwendigen Menschen beschauen, so werden wir ihme gar süsse und lieb seyn, sagen wir ohne Schertz in gantzen Treuen.“ (6;11)

Wieder erhebt sich der Zeigefinger, der auf das im ernsten Vertrauen Gesagte weist. Die Mahnung an den Leser, Selbsterkenntnis in die Lesehaltung aufzunehmen, sonst verstünde er nichts, baut der Gefahr vor, dass eine Lesehaltung skeptischer Vernunft gar nichts verstehe. Um diesen Punkt trug Böhme Sorge. Zur frühen Entstehungszeit dieses Werkes, am 14. November 1619, schrieb er an Christian Bernhard, seinem Freund, hinsichtlich der Verständlichkeit seiner Schriften:

„Also ists alleine in GOtt möglich, daß ein Geist den andern verstehe und begreiffe: Denn ich fürchte wol, ich werde an vielen Enden meiner Schriften schwer seyn, aber in GOtt bin ich dem Leser gar leichte, so seine Seele nur in GOtt gegründet ist, aus welcher Erkentniß ich alleine schreibe.“ (Ep. 4;12)

Selbsterkenntnis als des Lesers Rezeptionsvoraussetzung, die Erkenntnis seiner Schriften zu erfassen, setzt Leser und Schreiber ineins, und ihr gemeinsames Drittes wird in Gott erfahren, in einem seelischen Gleichklang. Auf emotionales Verstehen setzt Böhme, nicht auf Vernunft:  

„So wir uns in dieser Erkentniß recht entsinnen, so sehen wir klar, daß wir gleich wie eingesperret sind bis daher geführet worden, und eben von den Klugen dieser Welt, die haben uns in ihre Vernunft-Kunst gesperret gehabt, daß wir haben müssen mit ihren Augen sehen beydes in Philosophia und Theologia: Und mag dieser Geist, welche uns also lange hat gefangen geführet, wol billig der Anti-Christ heissen. Ich finde im Lichte der Natur keinen andern Namen, da ich ihn könnte mit nennen, als den Anti-Christ in Babel. Mercket nur fleissig darauf, ihr werdet ihn sehen reiten; er soll euch recht gezeiget werden, ihr (be)dürft keine Brillen darzu, auch keiner Academia: Er reitet über die gantze Welt in allen Schlössern, Städten und Dörfern, über Leib und Seele. (…).“ (6;12)

Die Befreiung, die aus dem Kerker der Entfremdung führen soll, hat eine andere allegorische Folie als den Garten Eden. Es ist die Apokalypse, die befreit, der Jüngste Tag, die Offenbarung. Ihrem endzeitlichen Ernst verleiht der Zeigefinger Nachdruck, mit dem Böhme auf den Ernst der Situation verweist: Der reitende Antichrist, der in schrecklicher Mutation die Gemälde Dürers und Brueghels verlassen hat und nun in den Dreißigjährigen Krieg hinein reitet, dramatisiert, ja terrorisiert das Verhältnis von Vernunft und Entfremdung, so dass – in einer zweiten Dimension – die Selbsterkenntnis auf die Offenbarung vorbereiten hilft. In der befreienden Offenbarung (Apo-kalypse heißt Ent-bergung) klingt die Selbsterkenntnis der ganzen Welt als Einheit an. So manches klingt daher wie endzeitlich beschlossen und entsprechend geheimnisvoll im ernsten Flüsterton bei Böhme: „Darum soll niemand den andern schmähen, denn er weiß nicht, unter welcher Stimme ein ieder gewesen ist: es ist nun das geschehen, was geschehen soll.“ (6;18)

Böhme war ein Apokalyptiker, jedoch kein Chiliast. Er glaubte nicht an magische Jahreszahlen, bei deren Anbruch der Jüngste Tag beginnen würde. Böhme sah vielmehr die Möglichkeit einer Arbeit an sich selbst, einer durchaus stoisch anmutenden, alle Schwankungen des Lebens ertragende Gelassenheit und Selbstdisziplinierung:

„Also sehet ihr, wie wir in einem dreyfachen Leben stehen: die Seele stehet am Abgrunde zwischen zweyen Prinzipien, und ist an beyden angebunden, und der Leib ist blos in dieser Welt, der lebet vom Geiste dieser Welt, darum suchet er auch nur Fressen und Sauffen, Macht und Ehre, dann er gehöret in die Erde, und fraget wenig nach der armen Seelen, welche aus der Ewigkeit ist. So sollen wir nun den Leib zähmen, ihme nicht Raum lassen, seine Begierde dämpfen, nicht füllen wenn er will, sondern nur zur Nothdurft, daß er nicht ein geiler Esel werde, und den Teufel zur Herberge einlade.“ (8;12)

Die Selbsterkenntnis, so viel sehen wir bereits, hilft auf das Ertragen von Katastrophen vorzubereiten; Selbsterkenntnis fördert das Verständnis für die Abgründe im Menschen, das Verständnis für Emotionen, nicht zuletzt denen des Schreibers Böhme, der vor nichts so viel Angst zu haben scheint wie vor der zersetzenden Kritik der Vernunft, deren Herumbohren in der Seele vom Teufel betrieben wird, als drehe er an einer Kurbel. Es ist die gleiche Angst, die ihn bei der Anstrengung begleitet, all das, was er schreiben möchte, mit unangreifbaren philosophischen Systemen abzusichern. In dieser Werkphase um 1620 geschieht dies mit der Zahl „drei“.


Ternarius Sanctus und die sieben Gestalten

Versuchen wir, möglichst einfach zu erklären, was es mit Böhmes System in diesem Werk auf sich hat.  Die Dreizahl prägt das Göttliche im Menschen und in der Natur.  

 „Die pure Gottheit ist überall gantz gegenwärtig allen Orten und Enden: Es ist überall die heilige Dreyzahl in einem Wesen; und die Englische Welt reichet an allen Enden, wo du hinsinnest, auch mitten in der Erden, Stein und Felsen: Also auch die Hölle, oder das Reich des Zorns Gottes ist auch überall.“ (1;51)

Damit schließt er an den Stand des vorangegangenen Werkes von den „drei Prinzipien“ an. Dessen Kenntnis wird von Böhme, so scheint’s, vorausgesetzt, zumindest wird die Formel, wie eben zitiert, nicht mehr in extenso erklärt wie in jenem Werk, sondern recht eigentlich nur  noch genannt und wiederholt. Auch den Gedanken, demnach alle Gegensätze auf der Welt in einer gegenseitigen Abhängigkeit stehen und worin von vielen Kommentatoren das „Dialektische“ bei Böhme gesehen wird, fasst er formelhaft zusammen:

„Der erste Wille heisset nicht GOtt, sondern Natura; der andere Wille heisset A und O, Anfang und Ende, von Ewigkeit in Ewigkeit. Und in dem ersten Willen wäre die Natur nicht offenbar, der andere machet sie offenbar, dann er ist die Kraft in der Stärcke, und wäre einer ohne den andern nicht.“ (2;10)

Einen Übergang, der direkt von den „drei Prinzipien“ zu dem „dreifachen Leben des Menschen“ führt, formuliert Böhme nur selten und gelegentlich als Neuansatz, wenn er merkt, dass seine Ausführungen festgefahren sind. Eine unserem Verständnis spontan zugängliche Formulierung fällt spät, in Kapitel 11:

„Es sind drey Principia, drey Reiche; zwey ewige, und ein anfängliches und vergängliches: Ein iedes begehrt des Menschen, denn der Mensch ist ein Bild aus allen dreyen; und das Wesen aller Wesen ist eine Sucht, Sehnen und Begehren, das urständet aus dem eigenen Willen, und der Wille ist die Ewigkeit.“ (11;104)

Im Verein mit den zuvor zitierten Formeln lässt sich das „dreifache Leben des Menschen“ so auffassen:

-Zeitlichkeit, Erde, Körper, sichtbare Natur: das in unserem Sinn biologische Leben;
-Licht, Liebe, „Sohn“, Anfang und Ende (Ursprung und Ziel): das erlöste Leben;
-Zorn, Finsternis, „Vater“, Wille, Gottheit, unsichtbare „Natura“: das unerlöste Leben.

Es handelt sich nicht um drei Leben, sondern um eines in drei Dimensionen. Die beiden ewigen Dimensionen scheinen, auf den Menschen bezogen, nicht höher zu stehen als die zeitliche des Menschen und sein Erdenleben. In dieser überkreuzen sich die beiden ewigen. Wie erklärt sich Böhme das Verhältnis dieser drei Dimensionen im Menschen und in der sichtbaren Natur?

„Also sagen wir, der H. Geist gehet vom Vater und Sohn aus: wo gehet er hin? In die Wesenheit mit dem Glantze der Majestät, darinnen stehet die Gottheit offenbar. Diese Pforte (diesen Verständniszugang – TI) heisse ich in allen meinen Schriften Ternarium Sanctum: Dann ich verstehe die Dreyzahl in der Wesenheit, als in der Englichen (zwischen-sphärischen – TI) Welt, da sie sich in drey Personen hat geoffenbaret.“ (51,39)

An diesem Begriff vom „Ternarium Sanctum“ hängt bei Böhme viel, vielleicht mehr, als bisher verstanden wurde. Zu seinem Verständnis fehlt gewiss eine klare Kontur, es herrscht eine Unschärferelation: Je christlicher der Begriff belegt wird, wie eben zitiert, desto mehr verweist er auf die Natursphäre, und umgekehrt, je naturhafter sein Ausgangspunkt ist, desto christlicher wird er aufgeladen. Durch Verwendung oft wechselnder Termini wird eine Begriffsbestimmung fast unmöglich.

Diese Unschärfe spiegelt sich in Versuchen der Wissenschaft, den Begriff bei Böhme zu verstehen. So übersetzt Grunsky den Begriff Ternarius Sanctus mit „heiliges Dreiergehäuse“(6), weil er, in Rekonstruktion der Böhmeschen Gedankenwelt als „geschlossenes System“, in dem Begriff eine Spiegelung der Dreifaltigkeit in der sichtbaren Natur vermutet. Jedoch gewinnt er dadurch keine Klarheit. In theologiegeschichtlichen Untersuchungen zum Dreifaltigkeitsbegriff wird der Ternarius Sanctus, wie ihn Böhme verwendet, erwähnt: Ferdinand Christian Baur zufolge ist „Der Ternarius sanctus (…) unser Leib im Bilde, welchen wir verloren haben.“(7) Auch dieser Bezug auf den paradiesischen, adamitischen Zustand es Menschen, als irgendwie zwischen Welt und Jenseits stehend, ist nicht von der Hand zu weisen. Mehr kaum geben andere Kommentare zu diesem Begriff bei Böhme preis. Dies erstaunt, scheint doch die begriffliche Verbindung zwischen den drei kosmischen „Prinzipien“ und dem dreifachen Leben des Menschen im Wort vom ternarius sanctus zu liegen.

Im Werk von den „drei Prinzipien“ verwendet Böhme ihn zum ersten Mal, im 22. Kapitel, also zum Ende hin, da bereits das Konzept zum Nachfolgewerk über das „dreifache Leben“ vorgelegen haben muss. Dort fällt es auf gut zwei Textseiten 19 mal, als habe er es frisch gehört und muss nun sein Verständnis erst erschreiben. In rauschhaftem Stil in Kap. 22, Absatz 60 bis 84 wirkt die Verwendung von ternarius sanctus jedoch wirr. In aufgeregten Definitionsversuchen scheitert er, den Begriff dem Leser nahe zu bringen. Böhme wusste dies und schreibt davon in seinen Briefen, etwa am 14. November 1619:

„Daß ich euch aber in etlichen Puncten schwer verständig bin in meinen Schriften, ist mir leid, und wünschte, ich könnte meine Seele mit euch theilen, daß ihr möchtet meinen Sinn ergreiffen.
Dann ich verstehe, es trift die tiefsten Puncte an, daran am meisten liegt, da ich mich etlicher Lateinischer Wörter grbrauche: Aber mein Sinn ruhet in Wahrheit nicht blos in der Lateinischen Zungen, sondern vielmehr in der Natur-Sprache.“ (ep. 4;25 und 26)

Diese Aussage betrifft die Fertigstellung der „drei Prinzipien“ im Oktober 1619 (vgl. ep 2;11). Dort bedankt er sich bei seinem Förderer, Carl von Endern, dass er Böhme ermöglicht habe, die Niederschrift ab dem 22. Kapitel in dessen Anwesen weiter zu führen. Es wäre eben jenes Kapitel, in dem der Begriff vom ternarius sanctus zum ersten Mal, und wie ein Platzregen, in die Sätze hineinfällt. Kurz vor der Niederschrift des 22. Kapitels der „drei Prinzipien“ muss es Gespräche gegeben haben, vielleicht im Haus Carl von Endern, in denen es um diesen rätselhaften Begriff vom Ternarius Sanctus“ ging.

Warum ist das alles wichtig? Um zu verstehen, wie das Böhmesche Denken von Werk zu Werk fortschreitet, erstens, und zweitens und wichtiger, um die Legitimationsstruktur seines Schreibens gegenüber der orthodox-theologischen Zunft zu verstehen. Diese Legitimation stellt er schützend wie ein Bollwerk vor die Anliegen, die ihn treiben.
Im Werk vom „dreifachen Leben des Menschen“ fällt der Begriff vom ternarius sanctus ebenfalls etwa 20 mal, nun aber ruhiger und besonnener auf das gesamte Werk verteilt. Sehen wir uns, so vorbereitet, die wohl wichtigste Definition genauer an:    

„In dem Worte Ternarius verstehet man in der Natur-Sprache recht die Göttliche Geburt in sechs Gestalten in der Natur, welche sind sechs Siegel GOttes.
Wann ich aber sage Ternarium Sanctum, so habe ich hierinnen die Dreyzahl in sieben Gestalten: dann die englische Welt wird mit begriffen, welche stehet in der siebenden Gestalt der Geburt; nicht nach der Lateinischen Sprache, sondern nach der Natur-Sprache, davon alle Dinge ihren Namen haben empfangen, welche unsere Philosophi von der Schulen des dritten Principii dieser Welt nicht verstehen.“ (3;17 und 18)

Dies, in der Tat, zielt ins Zentrum der Böhmischen Systematisierungsversuche. In dieser Werkphase, von 1618 bis 1620, spielt die in seinem sonstigen Werk so wichtige siebenstufige Lehre von den „Qualitäten“ oder „Gestalten“ so gut wie keine Rolle. Es dominiert die Dreierzahl-Struktur. Hier genau, an diesem Punkt, an dem er sich um das Verständnis des Ternarius Sanctus bemüht, berührt sich das Dreierprinzip mit dem siebenstufigen Qualitäten- oder Gestalten-Prinzip, soweit ich sehe einmalig in dieser Deutlichkeit im Gesamtwerk. Heißt es in 3;17: „In dem Worte Ternarius“ liege die Göttiche Geburt in sechs Gestalten, so bedeute, im nächsten Absatz, „Ternarius Sanctus“ die Eingliederung der Dreizahl in die „siebende“ Gestalt.

„Und diese Welt, verstehe die Englische Welt, heissen wir Ternarium Sanctum, und gantz recht also: Ob gleich die Lateinische Sprache nur die Drey-Zahl damit verstehet, so begreifets doch  die Natur-Sprache zusammen als einen Leib; (…).“ „denn ein ieder Engel und Mensch ist gleichwie der gantze GOtt.“ (8;2)

Das lateinische Veständnis von Ternarius ist einfach nur die Dreizahl, die Natursprache ergänzt dieses Abstraktum um das „sanctus“ und meint damit eine – sagen wir: naturheilige Dreiheit innerhalb der Schöpfung. Obwohl hier im Böhmischen Werk noch vieles zu erforschen und zu klären ist, wozu im Rahmen dieser Einführung keine Gelegenheit sein kann, lässt sich zusammenfassen: Mit dem Ternarius Sanctus überträgt Jacob Böhme die theologisch isolierte Trinitätslehre in die ganzheitliche siebenstufigen Qualitätenlehre, mit der er die Ganzheit der Naturkräfte erfasst.

Wie nach einem Dammbruch kann Böhme nun in diesem Werk die Planetenzuordnung in sein System neu aufnehmen (vgl. 5;55 bis 66), was die Herausgeber von 1682 zum großen Schaubild, zu einer Kupfersticheinlage veranlasste.(8) Unübertroffen ist Böhmes Souveränität, mit der er in seiner Natursprache das gesamte Vaterunser ausdeutet (vgl. 16; 29 bis 52).

 

Anmerkungen:

(1) Vgl. Andrew Weeks: Boehme. An Intellectual Biography. New York 1991, S. 146
(2) Der Einfluss Weigels auf Böhme ist unbestritten, wenn auch noch nicht in jedem Detail geklärt.
(3) Vgl. die Einleitung zu: Valentin Weigel: Ausgewählte Werke. Hg. und eingeleitet von Siegfried Wollgast. Berlin 1977. S. 48
(4) Zitiert bei Wollgast, ebenda, S. 171
(5) Zum Verständnis der gemeinsamen Linien in beiden Werken sei die Einführung zu den „drei Prinzipien“ auf dieser Website empfohlen.
(6) Hans Grunsky: Jacob Böhme. Stuttgart 1956. S. 210
(7) Ferdinand Christian Baur: Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Dritter Teil. Tübingen 1843. S. 291f. Über Böhme S. 261 – 327.
(8) In der Reprint-Ausgabe der Werke von 1730 in Band 3, neben Seite 170. Vgl. hier in der rechten Spalte.


Umfang: 344 Seiten, Sämtl. Schriften Band 3.
Überliefert in mehreren Abschriften. Zur Zeit beste Ausgabe: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Will-Erich Peuckert/August Faust. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Dritter Band. Stuttgart: Friedrich Frommanns Verlag, 1942.

 

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