Über die Werke

Aurora oder Morgenröte im Aufgang

Aurora oder Morgenröte im Aufgang

Selbstsicherer Auftakt


Nicht weniges verführt dazu, Böhmes „Aurora“ mit Goethes Faust zu vergleichen. So hebt recht ähnlich Böhmes „Aurora“ in der Vorrede an:


„Ich vergleiche die gantze Philosophiam, Astrologiam und Theologiam, samt ihrer Mutter, einem köstlichen Baum, der in einem schönen Lustgarten wächst.“ (Vorrede; 1), um dann an mehreren Stellen über die Wissenschaften zu klagen: „Ich habe viel hoher Meister Schriften gelesen, in Hoffnung den Grund und die rechte Tieffe darinnen zu finden; aber ich habe nichts funden, als einen halb-todten Geist, der sich ängstet zur Gesundheit, und kann doch um seiner grossen Schwachheit willen nicht zur vollkommenen Kraft kommen.“ (10;27)

Mit welcher Chuzpe hier der Nicht-Akademiker Böhme über mehrere Wissenschaften hinweg zu urteilen wagt, hat die Zeitgenossen in der Tat verblüfft, die etablierten Theologen die Stirn kräuseln und die freireligiösen und philosophischen Geister begeistert aufhorchen lassen.

Was ist die „Aurora oder Morgenröthe im Aufgang“? Was halten wir mit ihr in der Hand? Wir finden darin Sätze wie diesen, in dem Jacob Böhme versichert: „ich schreibe nicht heidnisch, sondern philosophisch.“ (23;10) Ist das, was wir dort über Engel, Lucifer, Saturn, Quellgeister, Sterne – um nur einige Stichworte aus dem Inhaltsverzeichnis zu nennen - Philosophie, die wir als solche noch nachvollziehen können?

Der erste Untertitel der „Aurora“ lautet: „die Wurtzel oder Mutter der Philosophia, Astrologia und Theologia“, mithin kein Werk zu nur einer der genannten Wissenschaften, sondern irgendwie mehr, oder weniger: sein Thema wäre das den damaligen Kardinalwissenschaften Gemeinsame, jedoch nicht in Ihren Auffächerungen Spezifische („Verästelungen“), sondern in ihrem Grund Ursprüngliche („Wurzel“).
Im Unterschied zu allen späteren Werken Böhmes, die in Thematik oder Gattung klarer konturiert und daher unterscheidbar sind, wirkt die „Aurora“ „pansophisch“, allweise. Da sie Fragment geblieben ist, laut Böhme fehlen 30 Bögen zu ihrer Fertigstellung, kann ihre systematische Geschlossenheit und geplante Überarbeitung nicht endgültig eingeschätzt werden, doch das überlieferte Fragment (100 Bögen) lässt zumindest die Absicht, bündig und systematisch zu argumentieren, klar erkennen.

Wenn Böhme im Titel das Werk als Wurzel auch der Philosophie bezeichnet, so muss berücksichtigt werden, dass zu jener Zeit unter Philosophie auch die Alchemie verstanden wurde, der Alchemiker war „Philosoph“, sein Stein der Weisen hieß „lapis philosophorum“ (vgl. die Ausführungen zu „De Signatura Rerum“). Philosophie im existentiell modernen Sinn zu sein, für die es zu jener Zeit noch keinen Begriff gab, kann die „Aurora“ als Wurzel jener Wissenschaften daher beanspruchen. Viele Passagen wirken wie die „Pensées“ des Pascal (1663), und wie diese Fragmentsammlung bezieht auch Böhmes Schrift ihre Faszination aus der expressiven und brüchigen Art zu schreiben. Die Emphase gehört zum Inhalt der „Aurora“, das Bekenntnis zu den „Ekstatischen Konfessionen“, unter welchem Titel Martin Buber mystische Texte 1909 herausgegeben und auch Auszüge aus der „Aurora“ berücksichtigt hat.

Die Selbstermutigung zum Schreiben und das Erlebnis des Schreibens bilden das für uns heute noch aufregende Thema des Werks, ein philosophisches Drama mit barocken, performativen Ebenen der Grübelei, der Zweifel, der Rechtfertigungen und einer für Böhme typischen Kreisbewegung der Gedanken.

 

 

Die Selbstermächtigung

Der Weg zum Schreiben ist von ihm selbst wie auch von jüngeren Zeitzeugen wie dem Schüler Abraham von Frankenberg recht genau in einer gutkalkulierten Mischung aus biographischen Fakten und Elementen standardisierter Heiligenlegenden oder imaginativen Versuchen, die Berufung eines Erleuchteten zu verstehen, nacherzählt worden. So sei der Knabe beim Viehhüten auf der Landeskrone, einem Hügel bei Görlitz, auf einen Sack voller Gold gestoßen, den er bewusst und angewidert habe liegen gelassen. So sei der Schuster-Lehrling von einem fremden Mann auf die Probe gestellt worden, die er bestanden habe, so dass der geheimnisvolle Mann ihm große Zukunft prophezeite. So befand er sich während seiner Wanderschaft als Geselle „7 Tage lang in höchster Göttlicher Beschaulichkeit und Freudenreich“ (Ausführlicher Bericht 7), (1) zum zweiten Male „wird er mit des 17. Seculi Anfang, nemlich Anno 1600, als im 25. Jahre seines Alters zum andernmal vom Göttlichen Lichte ergriffen, und mit seinem gestirnten Seelen-Geiste, durch einen gählichen (jähen – TI) Anblick eines Zinnern Gefässes (als des lieblichen Jovialischen Scheins) zu dem innersten Grunde oder Centro der geheimen Natur eingeführet (…).“ (Ausführlicher Bericht 11) Zehn Jahre später, 1610, wurde er „zum dritten Mal von GOtt berühret, und mit neuem Licht und Recht begnadet und bekräftiget. (Ausführlicher Bericht 12)“

Frankenbergs Formulierungen steigern sich in ihrem legitimierenden Charakter, um ein Schreibrecht zu  begründen.  Über diese Phase einer allmählichen, sich über Jahre hinziehenden Initiation berichtet Böhme selbst:

„Es war wol ein feuriger Trieb alda, aber ohne Vorwissen dieses Werckes, welcher im Autor verborgen gelegen, als ein Mysterium, welches GOttes Geist gerühret, davon eine solche Lust zu schreiben entstanden. (…)“ (Briefe 10; 3)

„Und das noch grösser ist, ist mir die Natur-Sprache eröffnet worden, daß ich kann in meiner Mutter-Sprache die allergrösten Geheimnisse verstehen.“ (Briefe 10;29)

„In solchem meinem gar ernstlichen Suchen und Begehren (…) ist mir die Pforte eröffnet worden, daß ich in einer Viertheil-Stunden mehr gesehen und gewust habe, als wann ich wäre viel Jahr auf hohen Schulen gewesen… Dann ich sahe und erkante das Wesen aller Wesen. (…) Ich sahe und erkante das hantze Wesen in Bösem und Guten, wie eines von dem andern urständete (…)“ (Briefe 12;7ff.)

„Es eröffnete sich aber von Zeit zu Zeit in mir, als in einem Gewächse: wiewol ich damit umging, und dessen in mir schwanger war, und einen heftigen Trieb in mir befand, ehe ich konnte in das Aeussere bringen: bis es mich hernach überfiel als ein Platzregen, was der trift, das trift er: Also  ging es mir auch, was ich konnte ergreiffen in das Aeussere zu bringen, das schrieb ich auf.“ (Briefe 12;10)

Böhmes erstes Werk, das Fragment geblieben ist, nimmt eine Sonderstellung ein. Böhme wurde 1613, nachdem das Manuskript der „Aurora“ in Görlitz und Umgebung kursierte,  ein Schreibverbot auferlegt, an das er sich, soweit wir wissen, weithin sechs Jahre lang gehalten hat, so dass seine nächsten Schriften erst ab 1619 entstanden, dann jedoch in rascher Folge.

Rätsel geben die Quellen seines Wissens auf. Dass er persönliche Unterrichtung in paracelsischem Wissen erhalten hat, wissen wir erst aus der Zeit um 1618, als der Paracelsist Balthasar Walther bei ihm wohnte und ihm die „40 Fragen von der Seele“ stellte (vgl. dort ). In der „Aurora“ verwendet Böhme paracelsische Begriffe, aber falsch, als hätte er sie nur eben gehört. Dieser Umstand veranlasste bereits die Herausgeber 1730 zu der Bemerkung im Apparat ihrer Sämtlichen Schriften:

„…so ist es dennoch darum desto anmercklicher, weil Autor der Zeit noch mit niemanden aus seiner Gabe geredet, und also pur lauter seine Einfalt daran zu erkennen; da er alle Wörter blos nach der Natur-Sprache und ihrem wahren Verstande  geschrieben und gebrauchet, und nicht, wie sie gemeiniglich klingen oder verstanden werden, als die Wörter: Animalisch, so ihme seelisch heist, von Anima die Seele, nicht thierisch, von Animal; Marcurius an statt Mercurius…“ (Ausführlicher Bericht V; 28, dort weitere Beispiele)

Der typische Fehler von Autodidakten, sich falsch verstandene Sachverhalte auch noch falsch zu erklären, wird noch um 1730 mit dem Hinweis auf die erleuchtete Verwendung der „Natursprache“ (vgl. dort ) in eine Tugend umgedeutet. Obwohl Böhme bereits für die Zeit vor der „Aurora“ sagte, „viel hoher Meister Schriften“ gelesen zu haben, wurde ihm aufgrund der eigenwilligen Wissensanwendung immer wieder ein Wissen aus dem Nichts angedichtet, dessen Aufnahme er selbst mit Visionserlebnissen verbindet. In Form eines Vorwurfs reicht dies bis in die neueste Forschungsliteratur:

„Böhme beruft sich ständig auf Erfahrung(en), um die Wahrheit seiner theologischen und philosophischen Aussagen zu begründen, und  behauptet auch häufig, dass er – als einfältiger und ungelehrter Schreiber – überhaupt keinen Zugang zu anderen Arten des Wissens habe. Diese letzte Behauptung ist eindeutig falsch, denn Böhme weist in den Schriften auch auf andere Autoren hin (…). Böhme ist überhaupt nicht so ungelehrt und intellektuell ahnungslos, wie er selbst gerne behauptet. Es handelt sich stattdessen um eine traditionelle, antiintellektualistische Argumentationsweise.“ (2)

Doch das Schema, auf wunderbare Weise visionär Wissen zu erlangen, ist nur unserem Verständnis von verifizierbarer Biographistik „eindeutig falsch“. Dass Böhmes Gedanken in Görlitz in einem avancierten intellektuellen Klima reiften, hat  die Forschung längst herausgefunden (3). Warum aber wird das Wunderbare seiner Wissensaneignung so von Böhme und seinen Anhängern hervorgehoben?
Am ehesten wohl, weil es oppositioneller Absicht folgt. Zu jener Zeit gehört die wunderbare Wissensaneignung eher zum Typus der Legendenbildung, nicht aus Unverstand, sondern aus Not und Hoffnung auf Akzeptanz. In der frühen Neuzeit waren derlei Künsterlegenden in den Biografien der Renaissancemaler Italiens oder bei Albrecht Dürer feste und bekannte Bausteine, die nicht das Ziel hatten, in unserem Verständnis eine persönliche Biographie nachzuzeichnen, sondern den Zeitgenossen die Legitimität der Berufung zu beurkunden - neben der Kirche. Böhmes Selbstbiographie enthält daher „typisches Überlieferungsgut“, das die Zeitgenossen kannten:

„Die Renaissance gesteht dem bildenden Künstler die echte Begeisterung zu, der Künstler aber, der so zum >Griffel der Gottheit< geworden ist, wird selbst als göttlich geehrt. Die >Religion<, zu deren Heilsgestalten er zählt, ist die Geniereligion der Neuzeit.“ (4)

So sagt denn auch Böhme an etlichen Stellen seines Werkes: „Ich habe dem Geist immer nachgeschrieben, wie Er es dictiret hat (…)“. (Briefe 10;17)

Diese Legenden enthalten Botschaften, auf die wir achtgeben müssen. So wird der „jovialische Schein“ jenes zinnernen Gefäßes, von dem Frankenberg uns berichtet, eine Bedeutung haben, auf die an anderer Stelle noch einzugehen ist. Hier genügt der Hinweis, dass Zinn in der Astrologie das Metall des Jupiters (Jovis) ist, dem Gegenspieler des Saturn, jenes Planeten, der bei gewissen Menschen Grübelei und Melancholie verantwortet. Und tatsächlich stellt Böhme diese Verbindung von Melancholie und Geistesdurchbruch her. (vgl. die Ausführungen zu „ Mysterium Magnum “) Durch das viele Grübeln…

„(…) ward ich derowegen gantz melancholisch und hoch betrübet, und konnte mich keine Schrift trösten, welche mir doch fast (sehr – TI) wol bekannt war: darbey dann gewißlich der Teufel nicht wird gefeyret haben, welcher mir dann oft heidnische Gedancken einbleuete, derer ich alhie verschweigen will.

Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist  (dann ich wenig und nichts verstund, was er war) ernstlich in Gott erhub als mit einem großen Sturme, und mein ganz Herz und Gemüthe samt allen andern Gedanken und Willen sich alles darein schloß, ohne Nachlassen, mit der Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu ringen, und nicht nachzulassen, er segnete mich denn, das ist: er erleuchtete mich denn mit seinem Hl. Geiste, damit ich seinen Willen möchte verstehen und meiner Traurigkeit los werden; – so brach der Geist durch.
Als ich aber in meinem angesetzten Eifer also hart wider Gott und aller Höllen Porten stürmete, als wären meiner Kräften noch mehr vorhanden, in willens, das Leben daran zu setzen welches freilich nicht mein Vermögen wäre gewesen ohne des Geistes Gottes Beistand - alsbald nach etlichen harten Stürmen ist mein Geist durch der Höllen Porten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit und allda mit Liebe umfangen worden, wie ein Bräutigam seine liebe Braut umfähet.

Was aber für ein Triumphieren im Geiste gewesen, kann ich nicht schreiben oder reden. Es läßt sich auch mit nichts vergleichen als nur mit dem, wo mitten im Tode das Leben geboren wird, und vergleicht sich der Auferstehung von den Toten.“ (Mr 19; 10-12)

Dieses Ringen um Wahrheit und um Erlaubnis, sie mitzuteilen, wird in der Bibel präfiguriert, ausgerechnet bei Jacob, dem listigen Gottesstreiter und Namensvetter Böhmes:

„Willst du es aber in diesem Leben erfahren, so (…) ringe mit Ihm, wie der H. Ertz-Vatter Jacob hatte die ganzte Nacht mit Ihm gerungen, bis die Morgenröthe hatte angebrochen (…)“ (6;24)

Aus diesen Zusammenhängen erklärt sich denn auch der Titel, den Böhme seinem ersten Werk gab. Jakobs Kampf mit dem Engel wird in 1 Mose 32;25 erwähnt: „Da rang ein Mann (unerkannter Engel – TI) mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.“ Auf diese „Morgenröte“ im ersten Buch Mose bezieht sich der Titel des Böhme‘schen Buches. (5) Im späten Hauptwerk, dem „Mysterium Magnum“, wird er sich ausführlich seinem Namensvetter widmen (vgl. dort).

 

Schreiben als Stückwerk

„Jedoch nicht also gemeinet, daß ich gar nicht irren könnte: denn es sind etliche Dinge nicht genug erkläret, und sind gleich als wie von einem Anblicke des grossen GOttes beschrieben worden, da sich das Rad der Natur zu geschwinde umwendet, und der Mensch mit seiner halb-todten und zähen Begreiflichkeit nicht genugsam fassen kan.“ (22;41)

Eitelkeit oder Rechthaberei können wir dem schreibenden Schuster nicht vorwerfen. Mit einer hohen Bereitschaft zur Selbstkritik, die in den späteren Werken eher fehlt, bekennt er seine Überforderung:

„Es wird manche Species (mancher Gegenstand – TI) oft wiederholet und immer tieffer beschrieben, um des Lesers, auch meiner selbst zähen Begreiflichkeit willen“. „(…) dann von wegen unserer Verderbniß ist unsre Erkenntniß Stückwerck, und nicht auf einmal gantz vollkommen; wiewol dieses Buch ein Wunder der Welt ist, welches die heilige Seele wol verstehen wird.“ (Vorrede; 107f)

Einerseits weiß Böhme als Schreiber bescheiden aufzutreten, andererseits beansprucht er die höchste aller denkbaren Legitimationen. Sein Ichgefühl, sein Wertgefühl wirkt äußerst gespalten, in einer beängstigenden Trennung zwischen dem – sagen wir: bürgerlichen Ich und dem göttlich berufenen Selbst. In entwaffnender Unschuld zuckt er mit den Schultern, wird er nach seiner Schreiblegitimation gefragt, und verweist auf sein Amt, der Gottheit den Griffel führen zu dürfen.

„Nicht schreibe ich mir solches zum Ruhm, denn mein Ruhm stehet in meiner Hoffnung des Zukünftigen: ich bin so wol ein armer Sünder wie alle Menschen, und gehöre auch vor diesen Spiegel; sondern ich verwundere mich,  daß sich GOtt in so einem einfältigen Manne will also gantz und gar offenbaren, und treibet ihn noch dazu, solches aufzuschreiben; da doch viel bessere Scribenten wären, die es viel höher könten schreiben und ausführen als ich, der ich nur der Welt Spott und Narr bin.“ (14;39)

„Denn verstehe nur deine Mutter-Sprache recht, du hast so tieffen Grund darinnen als in der Hebräischen oder Lateinischen, ob sich gleich die Gelehrten darinnen erheben wie eine stoltze Braut; es kümmert nichts, ihre Kunst ist jetzt auf der Boden-Neige. Der Geist zeiget, daß noch vorm Ende mancher Laye wird mehr wissen und verstehen, als jetzt die klügesten Doctores wissen (…).“ (8;73)

Die „Aurora“ ist voll von solchen Selbstrechtfertigungen, auch entschuldigt er sich vor dem Leser, dass das große Zugleich der Schöpfung, die Räder der Sternenumläufe, das Ineinander der Qualitätenlehre, das gleichsam Dreidimensionale und Kinetische nur zweidimensional und nacheinander wiedergegeben werden kann:

„Und ob ich gleich alhie habe geschrieben, wie alles wird, und wie es sich formet und bildet, und wie die Gottheit aufgehet; so darffst du darum nicht dencken, daß es etwan eine Ruhe oder Verlöschung habe, und hernach wieder also aufgehe. O Nein; sondern ich muß im Stückwercke schreiben um des Lesers Unverstand willen, damit er möchte was begreiffen und in den Sinn kommen.“ (11;65f)

Es sind nicht zuletzt die Rechtfertigungsversuche Böhmes, die zur Faszination und zur Berühmtheit gerade der „Aurora“ beigetragen haben: dass ein akademisch Unkundiger, mehr noch ein sozial Unbefugter sich selbstbewusst zum Schreiber erhebt, muss die Zeitgenossen ebenso beschäftigt haben wie seine Inhalte. Aus diesem Grund gehören die Qualitätenlehre, seine Natursprachenlehre sowie die vielen Rechtfertigungen zusammen, und nur in der „Aurora“ treten alle Dimensionen so zweiflerisch wie triumphal aufeinander, so originell und immer wieder neu ansetzend.

„So man nun will GOtt den Sohn sehen, so muß man abermal natürliche Dinge anschauen, sonst kann ich nicht von Ihm schreiben: Denn das Göttliche Wesen stehet in Kraft, sie sich nicht schreiben oder reden lässet. Müssen derowegen Gleichnisse vor uns nehmen, wenn wir wollen von GOtt reden: denn wir leben in dieser Welt im Stückwerck, und sind aus Stückwerck gemacht worden.“ (3;13)

Ob die göttlich inspirierte Selbstermächtigung zum Schreiben lediglich eine kalkulierte Schutzbehauptung ist, um sich Kritiker fern zu halten, oder ob nicht auch in Böhme die Vorstellung griff, wirklich inspiriert zu sein, ist so einfach nicht zu beurteilen. Die Frage stellt sich, ob der psychische Mechanismus dieses internalisierten Dialoges mit der Gottheit nicht notwendig zur Selbstermutigung gehört, als deren produktive Voraussetzung. (6)

Eindeutiger dagegen scheint die häufige Aussage eine Schutzbehauptung zu sein, die Schriften, besonders die „Aurora“, seien als bloßes „Memorial“ verfasst worden, worunter wir uns so etwas wie ein privates Tagebuch vorzustellen haben, ein Merkbuch ohne Anspruch, fremden Lesern zum Lesen zu geben. Überall dort, wo es eng wird für Jacob Böhme, beruft er sich hierauf. So heißt es in der „Schriftlichen Verantwortung  an den Ehrbaren Rath zu Görlitz 1624:

„Mein erstes Buch (Aurora) habe ich in solcher Erkentniß nur für mich selber zu einem Memorial geschrieben, in Willens, solches allein bey mir zu behalten, und keinem Menschen zu zeigen; solches ist mir aber durch Göttliche Schickung entzogen, und dem Herrn Primario (Oberpfarrer Gregor Richter, seinem größten Gegner – TI) gegeben worden, wie ein Ehrbarer Rath wol weiß.“ (Libellus Apologeticus 4)
Aggressiv und sichtlich genervt antwortet er dem Kritiker Balthasar Tilke: „Wollet ihr oder ein anderer mein Buch nicht lesen, lassets stehen, ists doch nicht gedruckt: Wer heissets nachschreiben? Ich habe es nur für mich geschrieben, es gehet euch nicht an, ich bin nicht damit gelauffen, und habe es iemand angeboten; es ist ohne meinen Willen ausgekommen, und ohne mein Wissen, wie diejenigen, die es zuerst bekommen haben, wol wissen.“ (Tilke 1; 54)

In den Briefen wird diese Karte des „Memorials“ besonders um 1620 gezogen (z.B. Briefe 7;5 – 10;2 – 12;9 – 13;79). Wie wenig dies überzeugt, belegen erste Blicke in welches seiner Werke auch immer. Der erste Satz der „Aurora“ ist übertitelt mit „Günstiger Leser…“ In der Vorrede heißt es: „Denen aber, so dieses Buch mit Einfalt lesen (…) wird es nicht ein Geheimniß seyn, sondern eine öffentliche Erkentniß.“ (Vorrede 89)

 

Kosmische Poesie

„Aus den Kräften GOttes ist worden der Himmel; aus dem Himmel sind worden die Sterne; aus den Sternen sind worden die Elementa; aus den Elementen sind worden die Erde und die Creaturen. Also hat alles seinen Anfang, bis auf die Engel und Teufel, die sind vor der Schöpfung Himmels und der Sternen und Erden aus derselben Kraft worden, daraus Himmel und Erde worden ist.“ (2;44)

In der „Aurora“ ringt der Schreiber Böhme um das Verständnis der Ganzheit von Natur und Übernatur. Die Entstehung des Kosmos und die Triebkräfte hinter diesen dynamischen und ineinander wirkenden Prozessen beschreibt Böhme, immer wieder neu ansetzend, mithilfe seiner Lehre von den „Qualitäten“ (vgl. unsere Ausführungen). Sie taucht in fast allen Schriften wie ein Gedankenkorsett in immer wieder anderen Gestalten auf. Der Begriff umfasst die „Qual“ der Schöpfung ebenso wie das „Quellen“ der Gestalten, die die Schöpfung hervorbringt. Die sieben „Qualitäten“, „Gestalten“ oder „Figuren“, sind nicht als Abfolge, Sukzession oder systematische Berechenbarkeit vorzustellen, sondern wie eine mehrdimensionale gegenseitige Abhängigkeit aller sieben. Böhme verwendet das Bild des siebenteiligen Kugelrades, das in alle Richtungen rollen kann:

„Gleich als wenn ein Rad vor dir stünde mit 7 Rädern, da je eines in das andere gemacht wäre, also daß es auf allen Enden gehen könnte, vor sich und hinter sich und quericht, und dürfte keiner Umwendung; und so es ginge, daß immer ein Rad in seiner Umwendung das ander gebäre, und doch keines verginge, sondern alle 7 sichtlich wären.“ (13;71)

Die Schöpfung, in sieben Tagen vollbracht, wird ferner von den göttlichen Kräften „ausgesprochen“, die Welt ist sozusagen das Ausgesprochene des ewig sprechenden Gottes. Was bedeutet dies? Böhmes „Natursprache“ als dynamische Sprachausdeutung, eine eigenwillige Methode seiner Etymologie, ist Teil einer umfassenden Sprachphilosophie, die auf eine Parallele zwischen menschlicher und göttlicher Sprache hinausläuft. Böhmes „Natursprachen“-Lehre kennt also ebenfalls zwei Dimensionen: Einmal die Beschreibung der Naturkräfte als Sprach-Vorgang, ferner und sozusagen umgekehrt die Interpretation semantischer Gehalte im Wortklang. Böhme gelingen dabei oft originelle lautmalerische Deutungen. Hier ein Beispiel:

„Das Wort Teu hat seinen Ursprung von dem harten Pochen oder Tönen, und das Wort Fel hat seinen Ursprung von dem Falle: also heißt nun Herr Lucifer Teufel, und nicht mehr Cherubin oder Seraphin.“ (13;26 – weitere Beispiele in den Erläuterungen zum „ Mysterium Magnum “)

Bemerkenswert sind Böhmes Bemühungen, mit Bildern die Wucht der Ereignisse beim Fall Lucifers vom schönsten Engel zum verstoßenen Höllenfürst zu untermalen:

„Wenn alle Bäume Schreiber wären, und alle Aeste Schreibfedern, und alle Berge Bücher, und alle Wasser Dinten; noch könten sie den Jammer und Elend nicht genugsam beschreiben, den Lucifer mit seinen Engeln in seinen Locum (Ort – TI) bracht hat.“ (16;26)

Dieser bei Böhme hochdramatisch erzählte Vorgang des Engelsturzes (man beachte die Schreib-Metaphern in diesem Beispiel) bildet den Hintergrund für die Rolle des Menschen innerhalb der Schöpfung. Auf ihn beziehen sich sämtliche „Qualitäten“ der Natur.

Dieses intuitiv erlebte Ineinander verleitet Böhme nicht dazu, beliebig oder konturlos zu denken. Sehr genau verwendet er seine Qualitätenlehre, um die Geschichte vom Fall Lucifers etwa zu erzählen, von der Aufgabe, die der Mensch im kosmischen Ringen um Gut und Böse wahrnehmen kann, wenn er nur diese Zusammenhänge bloß verstünde. Sie zu erklären, sieht Böhme als seine Aufgabe an, und in diesem Sinn rechtfertigt er sein Schreiben denn auch ausgesprochen expressiv und enthusiastisch, ja im Hochgefühl einer Berufung, die in diesem frühen Werk zu selbstbewussten poetischen, wunderbar geschriebenen Passagen führen, die in dieser mal melancholischen, mal aggressiven, mal liebevollen Stimmung im Spätwerk einem souveränen und mitunter taktisch motivierten Duktus weichen. Stellvertretend für viele Passagen nehmen wir ein Stilbeispiel für das „Mitgehen“ des Schreibers beim Beschreiben der 5. Qualität, die im weiteren Kontext der Liebe steht:

„Da küsset der Bräutigam seine Braut: O Holdseligkeit und und grosse Liebe, wie süsse bist du? Wie freundlich bist du? Wie lieblich ist doch dein Geschmack? Wie sanfte reuchst (riechst  - TI) du doch? Ach! edles Licht und Klarheit, wer kann deine Schönheit ermessen? Wie zierlich ist deine Liebe? Wie schöne sind deine Farben? Ach und ewiglich! wer kann das aussprechen oder was schreibe ich doch, der ich doch nur stammele wie ein Kind, das da lernt reden?“ (8;97)

„Wem soll ich nun die Engel vergleichen?  Den kleinen Kindern will ich sie recht vergleichen, die im Mäyen, wenn die schönen Röselein blühen, miteinander in die schönen Blümlein gehen, und pflücken derselben ab, und machen seine Cräntzlein daraus, und tragen die in ihren Händen und freuen sich, und immerdar von der mancherlei Gestalt der schönen Blumen, und nehmen einander bey den Händen (...) Daran hat nun die Gottheit ihren höchsten Wolgefallen, wie die Eltern an den Kindern, daß sich ihre liebe Kinder im Himmel also freundlich und wolgebären: denn die Gottheit in sich selbst spielet auch also, ein Quellgeist in dem andern.“ (12;31f)

Diese religiös aufgeladene Naturphilosophie lässt kaum der Kirche einen Platz, der für ihre Unabdingbarkeit reserviert bliebe. Evidenz und Glaubensgeborgenheit wird bei Jacob Böhme – wo in seinem Gesamtwerk überhaupt? – kaum mit kirchlichen Zeremonien, „Gottesdienst“ oder der Autorität eines Geistlichen auch nur ahnend in Verbindung gesetzt. Heilige Handlungen oder Bildmeditationen verlegt er ins Freie:

„Wilst du das nicht glauben, so thue deine Augen auf, und gehe zu einem Baum, und siehe den an und besinne dich (…).“ (9;32)

„Gott ist nicht Ursache daran, daß du verloren wirst: denn das Gesetze, recht zu thun, ist in die Natur geschrieben, und du hast dasselbe Buch in deinem Herzen. Du weist wol, daß du solt wol und freundlich handeln gegen deinem Nächsten; so weist du auch wol, daß du dein eigen Leben, das ist, dein Leib und Seele nicht solst schänden und beflecken.“ (11;31)

Dass ihm Pantheismus nachgesagt wird, verwundert nicht, gleich ob es historisch zur Begriffsgeschichte dieses arg strapazierten Urteils passt oder ob noch irgend sinnvoll bei Jacob Böhme Welt und Überwelt auseinander dividiert werden muss:

„Denn du darfst nicht sagen: Wo ist GOtt? Höre du blinder Mensch, du lebest in GOtt, und GOtt ist in dir: und so du heilig lebest, so bist du selber GOtt; wo du nur hinsiehest, da ist GOtt.“ (22;46)
Zu den Pathosformen der frühen Neuzeit gehört die schockartige Einsicht der Menschen, dass nicht die Erde im Zentrum des Kosmos, der ganzen Welt sich befindet, sondern – im damals bekannten Planetensystem – die Sonne. Ein epochales Weltbild war ins Wanken geraten, und das zentrale 19. Kapitel der „Aurora“, das auch einige der bereits zitierten Erleuchtungserlebnisse beschreibt, handelt von der subjektiven Betroffenheit, die für die damaligen Menschen das neue, kopernikanische Weltbild bedeutete.

„Das Inwendige oder Hole im Leibe eines Menschen ist und bedeut die Tieffe zwischen Sterne und Erde; Der gantze Leib mit allem bedeut Himmel und Erde…“ (2;19)

Der in Renaissance und früher Neuzeit bekannte Zusammenhang von Mikrokosmus und Makrokosmus wiederholt sich in Böhmes Schreibweisen und Themen. Eingedenk des kopernikanischen Heliozentrismus, demnach die Erde nicht mehr im Zentrum der Planeten und Sterne  steht, gibt es für Böhme keine harmonische Mitte mehr, stattdessen den Dynamismus einer simultanen Ganzheit der Natur.  

„Als mir aber dieses gar manchen harten Stoß gegeben hat, ohne Zweifel von dem Geiste, der da Lust zu mir hat gehabt (vom Teufel, der besonders den Melancholischen zusetzt - TI), bin ich endlich gar in eine harte Melancholey und Traurigkeit gerathen, als ich anschauete die grosse Tieffe dieser Welt...“ (19;5) „(…) die Erde drehet sich um, und lauffet mit den andern Planeten als wie in einem Rade um die Sonne.“ (25;61) „Wenn man aber den Vater mit etwas vergleichen will, so muß man ihn der runden Kugel des Himmels vergleichen (…)“. (3;10)

Die Unendlichkeit des Raumes beunruhigt, die der Kugel beruhigt. Welche Symbole, Grundformen, welche Gestalten und Qualitäten, Räder oder runde Götter Jacob Böhme in den leerer werdenden Himmel hinein versetzt, erhält vor dem Hintergrund einer verzweifelt suchenden Seele eine existentielle Dramatik. Blaise Pascal, nur wenige Jahre nach Jacob Böhme, sah den von Poesie entleerten Kosmos und er bekam eine Gänsehaut:

„Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.“ (7)

 

Anmerkungen:
(1) Frankenbergs Bericht in Sämtliche Schriften Band 10
(2) Bo Anderson: Jacob Böhmes Denken in Bildern. Eine kognitionslinguistisch orientierte Analyse der Wirklichkeitskonstruktion in der Morgen Röthe im auffgang (1612). Tübingen 2007,  S. 149
(3) Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. Berlin 1976. Bes. S. 31 – 46
(4) Ernst Kris, Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt/Main 1980, S. 74 f.
(5) So auch Ferdinand van Ingen in seinem Stellenkommentar zur „Aurora“, ebenda, S. 939
(6) Vgl. zu diesen Zusammenhängen: Thomas Isermann und Dirk Schmoll: Selbstermutigung. Sinnliche Impulse durch Kunst und Literatur. Kröning 2006, bes. S. 107 - 140
(7) Blaise Pascal (1623-1662): Pensées, Fragment 206. Zuerst 1669. Übers. von Ewald Wasmuth, Darmstadt 1978, S. 115

 

Umfang: 405 Seiten, Sämtl.Schriften Band 1
Überliefert in Böhmes eigener Handschrift (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel). Zur Zeit beste Ausgabe: Jacob Böhme: Die Urschriften. Herausgegeben von Werner Buddecke. Erster Band. Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag, 1963.
Nun auch ediert nach der Ausgabe 1656:
Jacob Böhme: Werke. Morgen-Röte im Aufgangk / De Signatura Rerum. Herausgegeben von Ferdinand van Ingen. Frankfurt / Main 2009.

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