Rezensionen

Rezension Heinrich Hilpert

Heinrich Hilpert: die Leidenstheorie Jakob Böhmes.

 

Diss. Maschinenschrift, Salzburg 1952. 94 Seiten. Bezug der eingescannten Fassung: Internationale Jacob Böhme Gesellschaft:

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Durch einen Zufall ist die Jacob-Böhme-Gesellschaft in Besitz einer Doktorarbeit gelangt, die 1952 verfasst, aber nie publiziert wurde. Das Exemplar ist eine maschinenschriftliche Durchschrift. Der Verfasser, Heinrich Hilpert aus Salzburg, ist 100 Jahre alt geworden und in 2022 verstorben. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, uns seine Doktorarbeit zur weiteren Bekanntmachung zu überlassen. Ihn erfüllen wir gern im ersten Schritt mit einer Rezension, und dies nicht allein aus Respekt vor seinem Alter und Lebenswerk, sondern auch aus wissenschaftlichen Gründen.

 

Der Ansatz des Autors, das „Phänomen“ Böhme aus der Perspektive der Leidenstheorie oder überhaupt des Leidens als inhärentem Bestandteil der von Böhme thematisierten göttlichen Sphäre zu betrachten, erfasst ein wesentliches Element der mystischen Philosophie, wie deren Tradition diese Arbeit plausibel nachzeichnet. Dabei ist dem Verfasser bewusst, dass sich die Frage des Leidens, die aus meiner Sicht nach etwas anderem fragt als diejenige nach dem Sinn des Bösen, nicht von trockenen Systemlehren allein sich beantworten lässt, sondern, wie auf S. 26 formuliert, von Leidenschaft und Ergriffenheit. Bei Jacob Böhme ist das Leiden durchaus ein Mitleiden, ein Anliegen seiner Sozialkritik, und eine erkannte Folge des Bösen in der Welt, das der barocke Autor Böhme um 1620 bereits in den Abgründen Gottes formuliert, nicht immer zur Freude der Kirchen, sondern als deren Antreiber, Reformator und Erneuerer.

Das Böse, das Leiden bei Jacob Böhme zu betonen, zeigt eine deutliche Aktualität dieser Arbeit von 1952, die in weiten Strecken keinesfalls überholt scheint. Durch die Konzentration auf das Leiden wird der abstrakte Begriff des Bösen in die konkrete Erfahrbarkeit der imitatio überführt. Jacob Böhme hat das Wort vom Leiden selten verwendet. Zentral wird es im Titel geführt in seiner Schrift von 1620: Von der Menschwerdung Jesu Christi, deren zweiter Teil lautet: „Wir müssen in Christi Leiden, Sterben und Tod eingehen“. Er spricht vom Bösen und leidet daran jedoch nicht, weil er meint, als Erlöster zu schreiben. Eine Leidenstheorie bei Jacob Böhme muss daher aus seinem Werk eigens herausdestilliert werden. Hierin sehe ich nicht so sehr die Aktualität dieser Arbeit. Sie liegt vielmehr in der Erinnerung daran, dass das Leiden eine existentielle Erfahrung ist.

Wer im frühen 17. Jahrhundert über Gott geschrieben hat, verfügte noch über ein metaphysisches Obdach, das als solches nicht „leidet“, sondern allmächtig ist, mithin das Böse in sich trägt wie das Gute. Aber Leiden kann nur ein Gott, der kein Obdach mehr gibt, der, nicht allmächtig, ausgelaugt im zwanzigsten Jahrhundert durch zwei Kriege,  durch die Atomgefahr nach diesen Kriegen, hungernd nach Liebe und Speise, vertrieben aus vielen Heimaten, hingekniet im Entsetzen darüber, was seine Kreatur, der Mensch, den anderen Menschen antut kann, dieser leidende Gott ist der einzige, den es für uns Deutsche nach Auschwitz in den 50er Jahren und eigentlich auch heute noch geben kann, wenn man denn überhaupt noch einen haben will.

Unter den Jacob-Böhme-Monographien seit 1945 gibt es wohl keine weitere, die das Leiden als Thema bei Böhme aufgreift, nur diese von Heinrich Hilpert. Seine Untersuchung könnte daher auch die einzige sein, die aus den 50er Jahren überleben wird. Denn wer das Leiden als Erfahrung des Göttlichen in philosophisch-mystischen Spekulationen existenziell oder religiös erkennt und in der Religion empfindet, der rettet vielleicht das letzte an ihr, was als erstes auch wieder zu ihr führen kann, eines Tages.

 

Nachtrag

Am 12. Dezember 2022 ist Dr. Heinrich Hilpert im Alter von genau 100 Jahren verstorben. Es war uns als Jacob-Böhme-Verein eine Ehre, Herrn Dr. Hilpert ein Stück weit auf seinem Weg als Anhänger der Philosophie Jacob Böhmes begleiten zu dürfen. Er wird uns als Verfasser seiner wertvollen wissenschaftlichen Studie über „die Leidenstheorie Jacob Böhmes“ und als engagierter Freund der Philosophie in Erinnerung bleiben. Wenn Werke der Kunst, Literatur und Philosophie umso frischer wirken, je später wir sie entdecken und lesen, dann sagt das auch etwas über die Dauerhaftigkeit philosophischer Werke aus, die über das Ableben ihrer Verfasser hinaus in den Lesern und Freunden weiterwirken.

„Bis zuletzt war sein Geist rege und noch vor einer Woche philosophierte er über sein Lebensende. Vorbereitet und wissbegierig auf den Zustand, der ihn wohl erwarten würde, sah er auch diesem Schritt mit Spannung entgegen.“

Wie zur Bestätigung dessen, was sein Betreuer, der Salzburger Georg Obererlacher, von den letzten Gedanken Dr. Hilperts uns berichtet hat, dürfen wir Jacob Böhme selbst zurate ziehen, der, als er 1618 gefragt wurde, wie das Paradies sein werde, antwortete:

„Es wird kein Alter da seyn, sondern ein Mann von 100 Jahren wird seyn als ein neugeborenes Kind (…). Alles was Freude ist, das wird gesuchet, und wo eins dem andern kann Freude bereiten, da ist sein Wille geneigt.“

Wem dieser Trost zur Verfügung steht, wird verzeihen, dass wir in einem Nachruf das Wort Freude verwenden, denn es richtet sich an uns, die weiterleben und aus der Welt eine bessere machen sollten.

 

Thomas Isermann

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