Handschriften von Mystikern sind, wie Reliquien, Unikate der Ehrfurcht. Von Reliquien unterscheiden sie sich im profanen Gebrauchswert sehr, weniger im ideellen Wert und in unserer Bereitschaft zur Adoration. Handschriften und Reliquien sind die kalte Schlacke eines erloschenen Feuers, das einmal in einem heiligen, in einem geliebten Leben brannte.
Autographen von historischer Bedeutung verbürgen nicht nur, dass ihr gedruckter Text wirklich von dem Autor stammt, dem auch die Handschrift angehört, und nicht nur, dass die Textfassung des Autors inklusive aller Schreibfehler, Korrekturen und der Orthographie die allein gültige sei, nein: Handschriften haben eine Physiognomie wie wir Menschen, eine feste und eine situativ wechselnde. Uns sieht man an, wenn wir hektisch sind, ungeduldig, verärgert, oder verliebt, glücklich und wohltemperiert oder melancholisch. Handschriften sieht man auch ein wenig an, wie sich die Verfasser gerade fühlten, als sie schrieben. Dazu muss man kein Graphologe sein, auch ein Philologe möchte wissen, ob der Autor seine Gedanken oft änderte, Streichungen und Korrekturen vornahm, oder ob das einmal Hingeschriebene – wie bei einem festen Charakter – gilt und steht.
Theologisch hat es mit Handschriften noch mehr auf sich: bedeutender als profane Texte ist eine Handschrift jener Mystiker, die ÜBER ihr Schreiben nachdenken und die immer wieder betonen: nicht sie würden schreiben, sondern Gott diktiere ihnen. Die Botschaften von außen dringen in den Geist ein, wo das, was diktiert wird – sagen wir: vom metaphysischen Heiligen Geist in die physische Muskelbewegung des Schreibens umformatiert wird. Was mag nicht alles im Körper ablaufen, wenn Gott dem Schreiber diktiert, und das verwandelt sich in eine Handschrift! Der Himmel und Erde schuf, die Berge, Meere, die Planeten, alles alles, die Städte, Wälder, uns: DER hat sich in den Handschriften der Mystiker nachlesbar hinterlassen. Wenn der Autor göttlich inspiriert schreibt, und wenn er ein guter Stilist ist, sind seinen Anhängern die Originaltexte nur umso heiliger. Diese numinose Bewunderung erklärt vielleicht, warum gerade einige der frommsten Anhänger eines Mystikers die strengsten und genauesten Editoren seiner Texte sein können. Ein Schüler der Mystik ist immer auch ein guter Philologe. Denn er hat das Wort lieb, weil Gott es sprach.
Nun gehen diese textuellen Reliquien auf Reisen, wechseln ihre Besitzer, sind Wind und Wetter in historischen Stürmen ausgesetzt, werden fortgeweht, und manches Blatt geht unter, geht verloren, manches Manuskript trennt sich vom Ganzen und siedelt woanders. In Nacht- und Nebelaktionen werden sie vor anrückenden Gegnern versteckt, vergraben, in eine vorläufige Sicherheit gebracht, bis wieder stabile politische Verhältnisse herrschen, in denen sie unter archivarischem Lichtschutzfaktor in A4-formatigen Särgen liegen und ungern aus der Hand gegeben werden. Werden sie gezeigt, so nur im Dämmerlicht, als würden sie schlafen. Man kann beobachten, wie die Besucher vor den Vitrinen leise sprechen, vielleicht um sie nicht zu wecken.
Aber das nur vorweg. Mit dem vorliegenden Buch:
Govert Bonnie Snoek: Handschriften en vrienden van Jacob Böhme in Leiden an Amsterdam Van Leiden naar Linz am Rhein. Eugen Schulte als „Vorsteher“ van de Gichtelianen in contact met Wilhelm Goeters en Werner Buddecke. De roof door de Gestapo (1941). De uitgave van de Urscheriften (1963-1966) en de huidige situatie. Haarlem Rozekruis Pers 2018. ISBN 9789067324687, 240 Seiten, 28,95 €
... ist nunmehr ein weiteres Werk entstanden, das sich umfänglich den Wegen der Handschriften Jacob Böhmes widmet. Es ist ein Buch über die verschlungenen Pfade der Böhme-Handschriften quer durch Europa und quer durch die Jahrhunderte, angefangen bei den ersten Initiativen des Abraham Wilhelmsz van Beyerland, der ab 1634 bis 1643 alle Böhme-Autographen aufkaufte und ins Holländische übersetzte, über den Bürgermeister von Arnheim, der diese Autographensammlung dem Herausgeber der ersten kompletten deutschen Werkausgabe, Johann Georg Gichtel, zur Verfügung stellte, bis zum Erwerb der Handschiften durch Böhme-Freunde 1728 unter Johann Wilhelm Überfeld, so dass die Handschriften bis zu diesem Zeitpunkt die Niederlande nicht verlassen haben und in der Vollständigkeit vorlagen, wie sie die Sämtlichen Schriften von 1730 umfassen.
Doch erst mit der Zeit danach setzt Snoek die genauere Spurensuche an: Der Weg der Handschriften von Leiden nach Berlin von 1750 bis 1827, der Umzug der Böhme-Freunde oder „Gichtelianer“ mitsamt den Handschriften 1896 von Westpommern nach Linz am Rhein, bis zu den Umständen der Entstehung von Werner Buddeckes Edition der „Urschriften“ 1963 (Band I) und 1966 (Band II). Diese Urschriften, eine kommentierte Transkription der Handschriften Böhmes, die überlebt haben, umfassen nur noch – geschätzt – ein Viertel der ursprünglichen „Sämtlichen Schriften“. Am Wegesrand werden Schicksale und Umstände der Agierenden miterzählt, so dass kein trockener Bericht entstanden ist, sondern über die Spurensuche nach den Handschriften hinaus ein Stück lebendige Zeitgeschichte. Spannende wie tragische Gestalten begegnen uns, wie jene Frl. Kralemann, Schwester bei den Böhme-Freunden in Linz am Rhein, wo die Böhme-Autografen 1896 bis 1941 lagen. Sie schrieb mehrere Briefe an die Gestapo in Koblenz, in denen sie auch ein tausendjähriges Reich verkündete, dem sich der Führer bitte zu unterwerfen hatte. Den Recherchen zufolge habe sich die Gestapo tatsächlich für Böhmes Handschriften interessiert. Geheimnisse waren ihr schließlich suspekt, auch mystische waren ihnen nur zum Lüften da. Bald zeigte sich jedoch der zerrüttete Geisteszustand jener Frl. Kralemann, die von der Gestapo in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, wo sich offenbar ihre Spur verlor, wenn nicht ihr Leben. So ließen sich viele Namen nennen, die den Weg der Manuskripte Böhmes durch ihr Engagement um die Handschriften begleitet haben.
Snoeks Darstellungen ergänzen viele Ausführungen zum 2007 erschienenen Aufsatzband „Jacob Böhmes Weg in die Welt“, hg. von Theodor Harmsen, ohne sie allzusehr zu wiederholen, etwa den Bericht von Günther Bonheim über die Engelsbrüder oder den von Matthias Wenzel über den Verbleib der Handschriften nach 1941 bis heute.
Ein eigener Aspekt wäre die Frage nach der juristischen Betrachtung des Umganges mit dem Linzer Archiv. Diese Publikation, gleich ob in niederländisch oder in deutscher Übersetzung vorliegend, könnte Anlass für eine sorgfältige Untersuchung dieser Frage sein. Wo liegen die Handschriften heute, und befinden sie sich dort zurecht? Der letzte Satz des Buches ist geeignet, schlafende Hunde zu wecken. Er lautet:
„Das Linzer Böhme-Archiv, das u.a. originale Handschriften, Abschriften, Bücher, Gemälde und sogar Bücherschränke umfasste, ist jetzt, soweit bekannt, verteilt über Görlitz, Breslau, Wolfenbüttel, Balingen, Amsterdam, und Bonn. 1970 schenkten die Böhme-Freunde nur die Böhme-Handschriften an Wolfenbüttel, die sie nach dem Krieg zurückbekommen hatten. Das übrige Material wurde ihnen nie zurückgegeben und das hätte die Stadt Görlitz doch wohl tun können.“ (S. 267)
Hier scheint noch eine Rechnung offen zu sein. Die Parenthese „soweit bekannt“ spricht Bände: wenn der Verbleib des handschriftlichen Materials nicht dem Verfasser dieser detaillierten Studie bekannt ist, wem dann? Fragen nach der Rechtmäßigkeit von Schenkungen sollten noch sicherer aufgearbeitet werden, als in diesem letzten Kapitel von Snoeks Untersuchung getan. Aber das scheint ein eigenes Thema zu sein.
Der Band ist gut bebildert, enthält viele dokumentarische Details, verfügt über ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Register. Dankenswert ist, dass der Autor seine Ergebnisse in einer deutschen Zusammenfassung präsentiert (Seiten 259 – 267). Diesem Werk ist zu wünschen, dass es alsbald komplett vom Niederländischen ins Deutsche übersetzt werden möge.
Weitere Hinweise zu dem Thema: Weiterlesen.
Thomas Isermann