Ein Grab ohne Gebeine. Wo ist Jacob Böhme geblieben? Und wer ist der geheimnisvolle Reisende?

  stadtplan legende

 

Wenn in der Dunkelheit der silberne Mond ein mattes Licht durch den Nebel streifen lässt, wenn der einsame Wanderer, der keinen Schlaf findet und durch die dunkle Altstadt von Görlitz  schleicht, wenn er dann am Nicolaiturm vorbei in Richtung des Gottesackers neben der Nicolaikirche geht, wie man eben geht in der Nacht, ein Lebender, der sich in der Dunkelheit als Störenfried der Toten empfindet, wenn dieser lebende Mensch plötzlich ahnt, dass manche der Toten noch leben könnten und als Wiedergänger ihm begegnen: Dann durchläuft ihn ein Schauder der Gewissheit, dass die Toten, die im Sterben um ihre letzte Ruhe gebracht wurden, eben nicht zur Ruhe kommen.

Ich hatte Gelegenheit, ein zweibändiges Exemplar der Sämtlichen Schriften Jacob Böhmes einzusehen. Es handelte sich um die Ausgabe, die 1715 von Otto Glüsing in Hamburg herausgegeben wurde, textgleich mit jenen Ausgaben von 1682 und 1730, jedoch in rund 4.000 großformatigen Spalten gesetzt. Die beiden Bände wirken dadurch wuchtig und ein wenig unhandlich. Interessant an diesem Exemplar war, dass es handschriftliche Notizen barg, von denen die umfangreichste sich auf der Rückseite der berühmten Görlitzer Stadtansicht befindet (bitte rechts auf die Legende klicken). Hier gebe ich der geneigten Öffentlichkeit den Inhalt der Handschrift kund und zu wissen:

Herrn August Örtels von Görlitz Relation[Mitteilung], betreffend des seel. Jacob Böhmens Haus und Grab, vom Monat Decembris 1716. Des seel. Jacob Böhmens Begräbniß ist auf den St. Nicolaus-Kirchhofe, Lit. S. [Buchstabe oder Zahl auf der Legende zur Stadtansicht rechts unten] ohngefehr um die Gegend, wo das rothe Creutz angemerkt ist. Von der Kirche Lit. R. an, ist es ohngefehr 56. Schritte, und also fast mitten auf dem Kirchhofe, vom Mittage gegen Mitternacht zu rechnen; von der Kirch-hoffs Mauer, aber an, nemlich vom Morgen gegen Abend ist es praeter propter [ungefähr] 29. Schritte. Es liegt fast in der Linie dem Alten gleich. Es ist voritzo Keine Marque [Markierung] mehr dabey, als daß die Erde noch ein klein wenig erhoben ist, und oben auf ein Stück schwartzgrauer Kieseling Stein hervor raget. Des itzigen Toden=Gräbers, Daniel Richters, Bericht nach, soll das Grab voller Steine seyn, und dieselbe mit der Erden gantz vest ineinander stecken. Er referiret: Als das Gebeinhaus Anno ...… repariret werden sollen, und 3 Toden=Köpfe Signi loco [am gekennzeichneten Ort] daselbst aufgestecket werden sollen, habe sein Vater, so auch Toden-Gräber alda gewesen, unter andern auch des seel. Jacob Böhmens Kopf mit darzu ausgräben wollen, habe aber, wie gedacht, das Grab voller Steine und dieselben so vest in einander gefunden, daß ihm endlich die allzu viele Mühe verdroßen, und es dahero habe bleiben lassen, zumahlen Ihme auch der Bürgermeister Knorr [Samuel Knorr von Rosenroth], deme er solches angezeiget, gesagt: Laßet ihr Böhmens Grab ungestöhret Er hat seinen Richter.

Jacob Böhmens Haus ist vor dem Neiß-Thor, wenn man über die Neiß=Brücke hinüberkommt, so gehet man die Heil. Geist-Kirche Litera M [Buchstabe M auf der Stadtansicht] vorbey, und durch das alda befindliche Thor, welches alhier mit einem rothen Dach bemercket [?] ist, dann stehen rechter Hand 3. Häuser, davon ist es das dritte alhier mit 2. rothen Strichelgen [?] notiret es stößet gleich an die daselbst befindliche Mauer, durch welche noch ein ungeschloßenes Thor in die Vorstadt gehet. Es gehöret solches vor itzo einem Fischer [?] nahmentlich Georg Geltner, der es aber nicht selbst bewohnet, sondern zwey Miethleute darinnen hat. Dem Bericht nach soll es noch das alte Haus seyn, dann dass Feuer niemalen in dieser Gegend einigen Schaden gethan.[1]

Zweifellos handelt es sich um die Notiz eines Reisenden, der im Dezember 1716 nach Görlitz kam, um die raren erhaltenen Spuren Jacob Böhmes in der Stadt aufzusuchen. Der Verfasser spricht mit mehreren Personen und erwähnt weitere Bürger der Stadt. August Örtel, Görlitz, berichtet dem Verfasser, wo das Grab Jacob Böhmes den Schrittkoordinaten gemäß zu finden sei. Ihn ergänzt der Totengräber Daniel Richter, dessen Vater auch bereits diesen Beruf ausübte. Es stand offensichtlich die Entscheidung an, das Grab Böhmes aufzulösen und – wie es üblich war – die dennoch erhaltenen Knochen, insbesondere die Schädel, im Beinhaus aufzustapeln oder unterzubringen. Doch bei diesem Versuch habe der Totengräber das Grab voller Steine gefunden. Er bat den Bürgermeister um eine Entscheidung, was zu tun sei, worauf der Bürgermeister ein wenig geheimnisvoll antwortete, das Grab Böhmes solle nicht weiter geöffnet werden, denn er, Böhme, „hat seinen Richter“. Es handelt sich um Samuel Knorr von Rosenroth (1657-1720), der hier mit gewisser Pietät entscheidet, das Grab Jacob Böhmes nicht weiter zu öffnen und es dabei zu belassen. Vielleicht war das eine weise Entscheidung.

Rätselhaft klingt die Schlussbemerkung dieser Notiz, dernach das Haus Jacob Böhmes am rechten Neiße-Ufer, das bis heute steht, niemals ein Opfer der Flammen geworden sei, als wenn diese ebenfalls pietätsvoll das Haus geschont hätten. Doch was hat es mit den Steinen auf sich? Knapp einhundert Jahre nach Böhmes Tod lag das Grab, dieser Notiz zufolge, voller Steine. Wurden die Gebeine vorher schon entfernt, oder lagen sie nie in dem Grab? Die Vorstellung wirkt unheimlich, dass die Gebeine des Mystikers noch gar nicht unter der Erde sein könnten. Aber wo ist der Schädel?

 

 Wer kann uns sagen, welcher Reisende diese lange Notiz 1716 geschrieben hat? Vorschläge bitte an info(at)jacob-boehme.org oder unter KONTAKT.

 

 

(c) Thomas Isermann

 

notiz rueckseite II 58

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Die Transkription wurde von mir mit Hilfe von Günther Bonheim durchgeführt.