Über die Werke

Mysterium Magnum

Mysterium Magnum


das lebendige Wort muß das buchstabische Bild tödten.“ (MM 36;65)

 

Dimensionen eines Romanessays 


Schon beim ersten Vergleich der einzelnen Schriften Böhmes begegnen Unterschiede in der Textgattung sowie in den Stilebenen, auf die sich der Schreiber demonstrativ begibt: Theologische Erörterung („Gnadenwahl“), alchimistische Anleitungen („Signatura rerum“), predigtähnliche Traktate, Trostschriften, Dialoge, polemische Streitschriften, Briefe. Mit dem „Mysterium magnum“ liegt ein Genesiskommentar vor, dessen ästhetische Elemente an einen Romanessay erinnern. Erzählelemente und Reflexion spiegeln sich gegenseitig und erschließen so die biblischen Geschichten des Ersten Buches Mosis.

Dieses späte Werk ist mit Abstand Böhmes umfangreichstes und reifstes. Insofern führt es die Bezeichnung „Magnum“ bereits im Titel mit Recht. Es stellt eine minutiöse, 78 Kapitel umfassende Ausdeutung der Genesis dar, vom Schöpfungsbeginn bis zu Jacobs Beerdigung und Josephs Tod. Allein die Schreibleistung ist enorm. Die – in der Edition von 1730 – knapp neunhundert Seiten dürften zwischen November 1622 und September 1623 entstanden sein. Die Herausgeber der Sämtlichen Schriften vermuten Vorstufen oder den Beginn der Niederschrift für Ende 1621. (Bericht V;45) Das entspräche einer Entstehungszeit von rund 11–12 Monaten, bei einer Schreibleistung von 80 Seiten pro Monat, rechnerisch knapp drei Seiten pro Tag, insofern er jeden Tag hätte schreiben müssen, was angesichts vieler Alltagssorgen (Reisen, Lebensunterhalt, Anfeindungen) sicher nicht immer möglich gewesen war.

Das Werk beansprucht eine eigene philologische Kalibrierung. Typisch für Spätwerke, wirkt es ausufernd, und dennoch wie eine Summa. Böhmes „Mysterium magnum“ ist ein Monolith in der Landschaft seiner Schriften. Zu diesem späten Werk verhält sich die Erstlingsschrift „Aurora“ wie – sagen wir: „Faust I“ zu „Faust II“, wie „Perrudja“ zu „Fluss ohne Ufer“, wie das „Portrait des Künstlers“ zum „Ulysses“, wie „Berlin Alexanderplatz“ zu „November 1918“, wie die „Buddenbrooks“ zu „Joseph und seine Brüder“. Im Zeitbezug liegen Vergleiche mit dem „Josephs-Motiv“ nahe, etwa in Grimmelshausens Roman „Der keusche Joseph“ von 1667, oder zum Motiv der Vertreibung aus dem Paradies, etwa bei John Milton, ebenfalls 1667. Freilich dürfen diese Vergleiche mit der Gattung der Epik nicht über Gebühr beansprucht werden. Seiner gattungsfreien Sperrigkeit und einem gewissen Eigensinn verdankt es jedoch, nahezu unerforscht zu sein. Es gibt, soweit ich sehe, keine umfangreichere Einzeluntersuchung zu diesem Werk.[i]

 

Qualitätenlehre und die Schöpfungstage im „Mysterium magnum“


Das erste Buch Mose beginnt mit der eigentlichen Genesis, der Entstehung der Welt in sechs Tagen und dem siebten als Ruhetag. Da dieses Schema der sieben Schöpfungstage den Zeitgenossen eine Matrix für zahlreiche Naturprozesse bot und zu vermuten steht, dass die sieben Tage der Genesis für Böhmes „Qualitäten-“, „Gestalten-“ oder „Geisterlehre“ gleichsam das Urmuster liefert, könnten ihm die sieben Tage der Schöpfung in diesem Werk besonderen Anlass geben, seine Lehre von den Siebener-Stufen in aller Sprachvirtuosität und Gründlichkeit durchzudeklinieren. Mehrfach führt er sie, in der Tat, über zahlreiche Kapitellängen zu Anfang des Werkes vor, fasst sie graphisch zusammen (vgl. 6;14–24), wendet sie in immer neuen Terminologien an.

Die prinzipiellen Zuordnungen der sieben „Eigenschaften“ entsprechen denen in den Werken zuvor. Ich zitiere daher nicht die vollen Ausformulierungen, sondern notiere zunächst in einer linken Spalte Böhmes Bezeichnungen, die in kleinen Überschriften erscheinen, und daneben die Schöpfungstage in der Bibel:

Mysterium magnum Genesis

I. Gestalt: Herbe, Begierde

1. Tag: Finsternis und Licht
II. Gestalt: Bitter, Stachlicht 2. Tag: Himmel und Erde
III. Gestalt: Angst, Befindlichkeit 3. Tag: Wasser, Erde, Flora
IV. Gestalt: Feuer, Geist, Vernunft, Begierde 4. Tag: Sterne ,Sonne, Mond
V. Gestalt: Licht, Liebe 5. Tag: Fische, Vögel
VI. Gestalt: Schall, Hall, Wort 6. Tag: Erdtiere, Mensch
VII. Gestalt: Wesen, Gehäuse 7. Tag: Ruhe

Die sieben „Gestalten“ haben mit den sieben Schöpfungstagen offensichtlich nichts zu tun. Der größte Unterschied liegt in einem Umstand, der in dieser Gegenüberstellung gar nicht zu erkennen ist: Die Genesis beschreibt die Entstehung der Welt in einem einmaligen Vorgang. Böhmes „Gestalten“ jedoch sind kosmogonisch gemeint, sie beschreiben die Entstehung göttlicher Kräfte, bevor diese die Schöpfung in Gang setzen. Stets legt Böhme Wert darauf, dass die sieben Gestalten immer, zu jeder Zeit, zugleich vorhanden sind und in der ewigen Natur ineinander wirken. In der „Aurora“ stellte er sich, wie hier besprochen, diese „Qualitäten“ als sieben Räder einer Kugel vor. Die Schöpfungstage der Genesis lassen sich als Entstehungsschritte der siebten Qualität denken. Die Genesis integriert Böhme in seine Qualitätenlehre. Das Ineinander beider Systeme lässt sich auch so aufreihen:

Qualität 1, Qualität 2, …. , Qualität 6, dann als 7. Qualität: (1. Tag, 2. Tag, … , bis 7. Tag).

Erst ab Kapitel zwölf beginnt Böhme, die sechs Tage der Genesis zu kommentieren. Der siebente Tag, beschrieben in Kapitel 16, enthält eine Besonderheit, auf die ich gleich noch eingehe. In den elf Kapiteln zvor hat er seine siebenstufige Gestalten- oder Qualitätenlehre vorgeschaltet, und hat nun Not, diese mit den völlig anders gearteten Schöpfungstagen der Genesis zu harmonisieren:

„Und obwol das Geschöpfe [die Genesis] in einer solchen Zeit, als in sechs Tage-Längen ist vollendet worden, so haben die Tagwercke doch gar viel einen subtilern Verstand: Denn es werden die sieben Eigenschaften [von Böhmes Lehre] darunter verstanden […].“ (12;2)

Das ist nur wenig mehr als eine Behauptung. Böhmes Beschreibung der Genesis-Tage werden mit den sieben Gestalten mehr assoziiert und hingebogen als überzeugend miteinander verknüpft. Einzig die erste Gestalt, die oft „Finsternis“ lautet, passt zum ersten Tag der Genesis.

In meinen Lektüren der Werke Böhmes habe ich die „Qualitätenlehre“ vier Mal getrennt voneinander dargelegt: in der Einführung zur „Aurora“, zu „De signatura rerum“, zur „Gnadenwahl“ und im Folgenden zum „Mysterium magnum“. Halten wir sie nun nebeneinander, so stellen wir Unterschiede zwischen ihnen fest, die größten zwischen den Versionen in der „Aurora“ und den späteren, doch auch nennenswerte zwischen der Darstellung in „De signatura rerum“ und im „Mysterium magnum“. Im Fließtext des „Mysterium magnum“ ist eine Tabelle eingebunden, die laut Kommentarzeile Böhme dem Freund Abraham von Sommerfeld übergab. (6;21)

Die Einzelbeschreibungen der „Gestalten“ sind ausführlich wie je: „Denn das Nichts hungert nach dem Etwas, und der Hunger ist die Begierde, als das erste Verbum FIAT, oder Machen: Dann die Begierde hat nichts, das sie könte machen oder fassen. Sie fasset sich nur selber, und impresset sich, das ist, sie coa­guliret [gerinnt] sich, sie zeucht sich in sich, und fasset sich, und führet sich vom Ungrunde in Grund, und beschattet sich selber mit dem magnetischen Ziehen, daß das Nichts voll wird, und bleibet doch als ein Nichts, es ist nur eine Eigenschaft, als eine Finsterniß; das ist der ewige Urstand der Finsterniß: Denn wo eine Eigenschaft ist, da ist schon etwas, und das Etwas ist nicht als das Nichts: Es giebet Dunckelheit, es sey dann, daß es mit etwas anders (als mit einem Glast) er­füllet werde, so ists lichte, und bleibet doch eine Dunckel­heit in der Eigenschaft.“ (3;5)

In mehreren seiner Werke wirkt die Beschreibung der ersten Qualität emphatisch, als würde die Schreibbewegung die Begierde nachzeichnen, mit der sie sich vom Nichts ins Etwas sehnt und verwandelt. Das „Mysterium pansophicum“ von 1620 begann mit ganz ähnlichen Sätzen wie den eben zitierten.

Ich greife ein Detail in dieser Schöpfungsspekulation heraus, das mir besonders für die Poetik dieses Textes von Bedeutung scheint. Nach der natursprachlichen Interpretation des Johannes-Wortes in Joh.1;1 („Im Anfang war das Wort, und das Wort war bey GOtt, und GOtt war das Wort“) ordnet Böhme den sieben Gestalten die damals bekannten sieben Planeten des Sonnensystems zu. Dabei lässt sich ein Unterschied zwischen den Werken „Mysterium magnum und „De signatura rerum“ in der Zuordnung feststellen:

In: Mysterium magnum in: De signatura rerum
Saturn Saturn
Merkur Jupiter
Mars Mars
Sonne Sonne
Venus Venus
Jupiter Merkur
Luna und Saturn Luna
(vgl. 3;8 - 6;24) (vgl. 9; 9-24)

Merkur und Jupiter sind vertauscht, Saturn wird im „Mysterium magnum“ doppelt, in der 7. Gestalt, der Luna beigeordnet. Im kurzen Tafelwerk von 1623 (vgl. Tafeln) gibt Böhme die Version im „Mysterium magnum“ wieder, im Übersichtswerk „Clavis oder Schlüssel“ von 1624 werden bei 1 und 7 Luna und Saturn, bei 2 und 6 Merkur und Jupiter doppelt besetzt. Was bedeuten diese Unterschiede?

In der frühen Neuzeit waren solcherlei Planetenzuordnungen Interpretamente für die Eingebundenheit des Menschen in die Ganzheit von Erdenleben und Himmelsgeschehen, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos.[ii] Nicht alle diese Unterschiede innerhalb der Werke Böhmes sind in der Forschung geklärt, für das Verständnis des „Mysterium magnum“ scheint mir folgende Erklärung nahe zu liegen:

Merkur und Jupiter wirken wie zwei Seiten eines Prinzips, nämlich einerseits wie eine Abstoßung vom Bösen, wie der „Sohn“ sich vom „Vater“ emanzipiert: „es ist alhie wie Vater und Sohn: der Vater will stille und hart seyn, und der Stachel, als sein Sohn, zeucht [zieht] im Vater, und machet Unruhe […]“. (3;11) Andererseits wirken die Planeten wie die Botschafter zwischen Himmel und Erde, indem die Welt im Wort „gesprochen“ wird:

„Die 6te Gestalt der Natur und aller Wesen entstehet auch aus den andern allen, […] die ist der Natur Verstand, Schall, Rede und alles was lautet, es sey im Lebhaften oder im Unlebhaften.“ (5;11) Beschreibt die Konnotation zwischen Saturn und Merkur ein aggressives und oppositionelles Verhältnis, so zwischen Venus und Jupiter ein eher freundliches, nämlich das „Aussprechen“ der Schöpfung, auch in Parallele gesetzt zur „incarnation verbi“, der „Fleischwerdung“ des Wortes, mit dem Jesus Christus gemeint ist.

Saturn und Jupiter scheinen stets in einem Zusammenhang zu stehen: in beiden aufgeführten Spalten sind sie benachbart und „folgen“ aufeinander im Ablauf der sieben Gestalten. Der Tabelle „Makrokosmos“ in Böhmes „Tafeln“ ist zu entnehmen, dass dem Saturn typischerweise die Verfassung des „Melancholischen“ beigeordnet ist. Mit diesem Seelenzustand verbindet sich das Grübeln, die Traurigkeit über die Ab- und Ungründe der Welt. Jacob Böhme hat sich selber als Melancholiker beschrieben (vgl. „Aurora“ und in der Schrift „Von vier Complexionen“). Ferner ist Saturn der Gott der Zeit, griechisch heißt er „Chronos“.

„Also ist auch Saturnus oder die siebente Eigenschaft des siebenten Tages die Ruhe oder Stätte der andern sechs Tage-Wercke […]; die siebente Eigenschaft stehet stille als ein stumm Leben.“ (16;18).

„Denn in der siebenten Eigenschaft lieget der ewige Tag, daraus die Tage der Zeit sind ausgegangen […]. Diese Zeit aber muß GOttes Liebe und Zorn in einander wircken […]. In der siebenten Eigenschaft werden alle Dinge an ihr Ende gebracht, als in den ersten Tag des Anfangs aller Wesen […]“ (16;23–27)

Die Besetzung Saturns in der ersten und siebten Gestalt besagt einen Kreislauf, bei dem der Zeiten Ende ihr Anfang sein wird. Bei Böhme „dauert“ der siebente Tag der Genesis gleichsam bis zur Apokalypse, und genau in dieser Uminterpretation bleibt ein Widerspruch zwischen der Böhme’schen siebten Qualität und dem Mosaischen siebten Ruhe-Tag.

Dass die oben genannten Planetenzuordnungen zwischen den Werken etwas differieren, wird mit den unterschiedlichen Ausrichtungen der Schriften zusammenhängen. In „De signatura rerum“ geht es um die Stufen der Erkenntnis, die sich an den Signaturen qualifiziert. Der oberste Gott Jupiter erlöst vom Planeten-Einfluss des Saturn, der die Melancholie verantwortet, als Voraussetzung für den alchimistischen Durchbruch. Im „Mysterium magnum“ geht es um die „Zeit“, die erzählt wird, um das Epos der Entstehung, dem das Ende der Welt zeichenhaft eingeschrieben ist. Der kosmologische Ablauf aus Genesis und Offenbarung, zwischen denen sich Geschichte ereignet, wird durch Jupiter – in der Offenbarung – beendet, Saturn deutet den zeitlichen Kreislaufcharakter aller Geschichte an. Jacob Böhme, ein spontaner Schreiber ohne den Zwang, ein starres astrologisches Raster einzuhalten, ordnet die Planeten zu, wie es sein Thema erfordert. Über jedem Werk steht ein anderer Stern.

Im „Clavis“ von 1624, dem „Schlüssel“ zu zentralen Begriffen des Werkes, findet sich die beste und reifste Grafik zur Lehre der sieben Geister oder Qualitäten. Sehr schön sehen wir hier die drei Prinzipien in die Qualitätenlehre eingewoben. Auffallend ist rechts das Kerzen-Gleichnis: Die Kerze selbst ist „finster“, ihr Feuer ebenfalls, und, davon getrennt, spendet sie das Licht. Darunter sehen wir die Definition der Prinzipien. Die „Gestalten“ führen, bis auf die vierte, Doppelbesetzungen der Planeten.

Der Hinweis auf „Apoc. I“ ist aufschlussreich für die heilsgeschichtliche Einordnung der gesamten Lehre. In der „Offenbarung“ bzw. der „Apokalypse“ herrscht die Zahl sieben mehrfach. Der biblische Bezug der Qualitätenlehre ist somit umfassend. Sieben Tage der Schöpfung – sieben Qualitäten, die simultan und immerwährend zugleich Gott und Natur gestalten – und die vollkommene Dominanz der Zahl sieben beim Ende der Welt ergeben ein Weltgebäude, das im Kern bei Böhme feststeht wie ein Gerüst oder ein Raster, das je nach Thema der Werke mit leichten Nuancen verschieden ausgefüllt werden kann.

 

 

Abbildung 6 Gestaltenschema aus "Clavis"

 

Geschichtsphilosophie in Geschichten


Mit engagierter Phantasie erzählt Jacob Böhme alle Geschichten der Genesis nach. Die Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, die Sintflut – Noahs „Kasten“ aus Holz interessiert den Handwerker Böhme besonders –, der Turmbau zu Babel, Abraham und Isaak, Jacob und Esau, Joseph und seine Brüder. Genau in der Mitte des Werkes befindet sich ein Selbstkommentar, eine Rezeptionsanweisung:

„Und sollet gar eben wissen, daß das 1. Buch Mosis gantz aus des Geistes Andeuten, was iede Geschichte in der Figur bedeute, sey geschrieben worden: Wer die Geschichte lesen und recht verstehen will, der muß ihme den alten und neuen Menschen in sein Gemüthe modeln, und Christum und Adam gegen einander stellen, so mag er alles verstehen; und ausserdem verstehet er nichts davon, als nur eine kindliche Historia, welche doch also reich an Geheimnissen ist, daß sie kein Mensch von der Wiegen bis in das höchste Alter aussprechen möchte.“ (43;57)

Denn das ist Sinn aller biblischen Nacherzählung, das Erzählte auf die Gegenwart zu übertragen, um mythische Geschichten neu zu verstehen. Biblische Geschichten in diesem Sinn anzueignen, ist zunächst so originell nicht; in den Kirchen leben die Predigten seit Jahrhunderten von dieser Aufgabe, in der Kunstgeschichte spiegelt sich jede Zeit in der Bibel wider. Worin liegt das Besondere in diesem Traktat?

„Wann GOtt ein Land strafen will, schicket Er ihnen erstlich einen Boten, und lässet sie zur Buße mahnen, und verkündiget ihnen seine Gnade: Hernach schicket er auch balde den Engel der Gerechtigkeit, der sie sichtet, ob sie auch der angebotenen Gnade fähig sind, und stellet ihnen das Gerichte vor mit Dräuung ihres Unterganges, auch mit Andeuten grosses Krieges und Plagen, wie er sie vertilgen und ausrotten will, wo sie nicht umkehren und Busse thun; und zeiget ihnen durch seine Boten das Licht und den Weg der Gerechtigkeit, und läßt sie eine weile in dem angebotenen Lichte hinlauffen, bis sie des überdrußig werden, und nur für ein gemein Ding und Historia halten, und wieder ein Sodom werden.“ (44;6)

Die Rede ist von Loth, der Sodom und Gomorrha flieht, und von Loths Frau, die sich umdreht und zur Salzsäule erstarrt – für den Alchimisten in Böhme von Interesse (vgl. 44;28 ff.), und vom Untergang dieser dekadenten Städte. Ähnliche historische Ereignisse waren der Zeit des eben begonnenen Dreißigjährigen Kriegs um 1624 nicht fremd, zur Überwindung der Geschichte wird hier ihr Engel angekündigt, der nicht verkündet, sondern beobachtet; nicht urteilt, sondern testet. In einem beinah hinterhältigen Verfahren, in dem eine typische Kollektivschuld an der Dekadenz vorgeführt wird, werden Untergänge, die die Gottheit beschließt, als von Menschen verantwortet gerechtfertigt. Aus der biblischen Geschichte Lehren zu ziehen, soll vor dem Untergang in der realen bewahren. Als einen „Spiegel der Welt“ deutet Böhme daher das erste Buch Mose. (27;1)

Während viele unter Böhmes Kritikern in seiner Naturphilosophie Hegels Dialektik präfiguriert sehen, so ließen sich in Ergänzung dazu am „Mysterium magnum“ Spuren moderner Geschichtsphilosophie erkennen. „Denn wo kein Wiederwille wäre, so wäre in den Eigenschaften kein Bewegniß“, (29;7) so Böhme über die Gegensätzlichkeit im göttlichen Gut und Böse, die in der Religionsgeschichte immer wieder zur Frage nach dem Sinn des Bösen führte. Böhmes Qualitätenlehre gibt eine Antwort: Mal als „Qual“, mal als „Quellen“ gehörten bereits in der „Aurora“ Finsternis und Zorn zur Ganzheit Gottes, seine Geburt und Wiedergeburt ist – indifferent zwischen Gut und Böse – ein „werdender Gott“, kein starrer Richter, sondern auch Opfer seiner selbst. Christliche Geschichte ist keine der Opfer Gottes, sondern die seiner eigenen Opferung, insofern dem Menschen durchaus offen, und im Begriff von der eben zitierten „Bewegniß“ auch im historischen Sinn dialektisch.

Das Spätwerk „Mysterium magnum“ weist den höchsten Grad einer Episier­ung, einer Narrativik des philosophisch Unlösbaren auf. Das Buch ist selbst ein Eposkommentar, das epische Raster ist daher fest vorgegeben. In ihm bringt Böhme es fertig, virtuos jede Einzelheit nacheinander gemäß seiner Erklärungsraster auszudeuten. Das Problem der Abfolge macht das eigentliche Hauptthema des Werkes aus, die Beziehung von Zeit und Ewigkeit. „Ich verstehe alhier mit Beschreibung der Natur die ewige, nicht die zeitliche“, um am weltlichen Geschehen der Schöpfung zu zeigen, „[…] daß der Himmel in der Welt ist, und die Welt ist nicht im Himmel.“ (12;23) An diesem Punkt verweist die philosophische Legitimation dieser Nacherzählung auf die Psychologie Jacob Böhmes, die den Laien veranlasst, zu erzählen, wo selbst Gelehrte nicht weiterwissen. „Mysterium magnum“ als „großes Geheimnis“ betrifft die Teilhabe der Seele am Heilsgeschehen der christlichen Ordnung.

In ganz anderem Zusammenhang, anlässlich der Narrativik der Psychoanalyse, hat Eva Illouz auf die protestantische Selbstvergewisserung der Subjekte in ihrem direkten Verhältnis zu Gott hingewiesen. In der narrativen, der erzählenden Aneignung biblischer Vergangenheit als „ewige“ Gegenwart und Aufgabe vollziehe sich eine Selbstfindung, die – so können wir ergänzen – das „Erkenne dich selbst“ bei Jacob Böhme aufnimmt.

„Die Bibelgeschichte zeichnet sich durch vier charakteristi­sche Merkmale aus“, so fasst Eva Illouz die erzählerische Logik der Erlösung zusammen: „Erstens ist sie linear und endlich, An­fang, Mittelteil und Ende sind klar definiert. Auch schildert sie keine kontinuierliche Entwicklung, ihre entscheidenden Ereignisse brechen vielmehr überraschend herein und bewir­ken im Leben ihrer Protagonisten eine bedeutende und dra­matische Veränderung. Zweitens betrachtet die biblische Er­zählung die Gegenwart als unvollkommen und mangelhaft; sie ist daher zukunftsorientiert: Sie hat ein eschatologisches Ziel, und der Plot strebt nach dem bestmöglichen Ausgang (durch göttliche Vorsehung). Drittens stellt uns die biblische Erzählung vor ein Dilemma: Gott ist einerseits gerecht und allmächtig, andererseits leiden die Tugendhaften und gedei­hen die Sünder – wie kann das sein? Und viertens sind die Protagonisten der biblischen Erzählung Gott, die Mensch­heit und die Seele, wobei die Seele im Mittelpunkt dramati­scher Entwicklungen und Konflikte steht.“[iii]

Vieles aus Böhmes Gedankenwelt finden wir hier wieder. Die Dramatik biblischer Nacherzählung ist eine Folge der inneren Widersprüche des Heilsgeschehens, in dem sich das Göttliche nicht immer als souveräner Sieger über das Böse zeigt. Die biblische Lektüre unterscheidet sich von einer Romanlektüre, indem bei jener die Aufforderung mitformuliert wird, das eigene Leben des Lesers in die Heilsgeschichte mit hinein zu lesen.

Da Böhmes Genesis-Kommentar wesentlich länger ausgefallen ist als der Text der Genesis selbst, ent­steht ein neues Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit. Die erzählte Zeit ist die der historischen Zeit, in diesem Fall die Ereignisse im ersten Buch Mose, vom ersten Tag der Schöpfung bis zum Tod Josephs. Die Erzählzeit ist jene Zeit, die der Erzähler benötigt, um seine Geschichte zu berichten, es ist daher die Zeit, die ein Leser benötigt, um die Geschichte zu lesen. Die Lektüre des Böhme’schen Traktats dauert ungleich länger als die des 1. Buches Mose und hat den Effekt einer intensiven Aneignung, einer Einübung in den biblischen Text. Nach 900 Seiten hat der Leser das Gefühl, selber dabei gewesen zu sein. In Thomas Manns Trilogie „Joseph und seine Brüder“ kann dieser Effekt erlebt werden, auch wenn beide Werke freilich nicht so einfach verglichen werden können. In Böhmes Text überwiegen die traktathaften Reflexionen vor den reinen Erzählpassagen.

Eine Begebenheit, auf die sich wiederum Mose aus der Distanz bezieht, kann es für Böhme nicht geben, weil die „Figur“ des Alten Testaments nicht als historisches Gleichnis, vielmehr als ewiges Vorbild für die Gegenwart übersetzt werden muss. Deshalb ist die erzählte Zeit eigentlich eine Null-Zeit. Der siebte Tag als jener der Ruhe ist demgemäß der „Scheide-Tag“: „Diese Zeit aber muß GOttes Liebe und Zorn in einander wircken […]“, (16;25 f.) und als ein „stumm Leben“ verführt der Tag zu saturnalischer Untätigkeit. (vgl. 16;18) Zeit als immanente Struktur der siebten Qualität erfährt der Adam Kadmon, der ursprüngliche Mensch, der Adam vor Erschaffung Evas und als solcher androgyn,[iv] erst viel später, und das entbehrt nicht der Originalität (mit Bezug auf 1 Mose 2;21):

„Alda sanck er zu hand nieder in Unmacht in Schlaff, als in eine Unvermögenheit, welches den Tod andeutet: Denn das Bilde GOttes, welches unverrücklich ist, schläffet nicht; Was ewig ist, in deme ist keine Zeit, mit dem Schlaff aber ward im Menschen die Zeit offenbar, denn er schlieff ein der Engli­schen Welt, und wachte auf der äussern Welt.“ (19;4)

Erst nach diesem Schlaf beginnt „Zeit“, erzählte Zeit zu laufen. Die magische Vorstellung einer Metamorphose durch Schlaf, bei dem das Aufwachen nur eine Fortsetzung des Traumes mit andern Mitteln ist, gehört zu den zentralen Motiven des Werkes. Dieser Traum wird zum Alptraum der Zeit und zur Zweigeschlechtlichkeit (Eva wurde ja während dieses Schlafs geschaffen), wovon auf­zuwachen der göttlichen Erleuchtung gleichkommt. Diese über­windet jede Zeitdistanz, so dass Böhmes Kompetenz als Augen­zeuge aller Vorgänge im 1. Buch Mose keinem Zweifel unterliegt:

„ […] so sagen wir alhie auf magische Art nach Recht der Ewig­keit daß wir wahrhaftig sind dabey gewesen, und dis gesehen: Aber Ich, der ich der Ich bin, habe es nicht gesehen.“ (9;1)

Eine merkwürdige Formulierung. Das Ich der Vereinzelung träumt den Traum der Realität; Böhme spricht stets vom „Wir“, wenn er darauf hinweist, dass sein Wissen nicht sein Verdienst ist. Dieses Wir ist das Pro­nomen eines Haupthelden im „Mysterium magnum“. Er erlebt stän­dige Metamorphosen und Namenwechsel. Das Gemeinsame faßt sich im Namen Jesus Christus zusammen. So ist der Adam vor dem Sündenfall seine früheste Parallele, (19;5–11) später etwa Abel, das Opfer des antichristlichen Kain, (vgl. 28;28–58) oder auch Abraham (vgl. 37;33). Böhmes Lust zur Analogie verbindet sie miteinander, mit ihr wird die Gottessohnschaft geheimnisvoll in die zeitliche Zukunft weitergegeben. So nennt Jacob die Grabstelle Rahels „Bethel“, an der, das spätere Bethlehem vorformend, die Geburt Christi ablesbar wird, Rahel ist dabei die Sophia-Gestalt – die Braut Jesu. (vgl. 63;19)

Als singuläres Werk steht das „Mysterium magnum“ zwischen Epos, mystischem Traktat und Bibelexegese. Dem Werk fehlt dennoch jede Art von ästhetisch kalkulierender Narrativik im Dienst etwa der Leserführung, Unterhaltung, ironischer Brechnungen oder Retardierungen, epische Mittel also, die dem Schreiber ungewollt nur in der Mikrostruktur gelingen.

Jedes Detail wird in die Gegenwart projiziert, gemäß der Ein­sicht, dass das Alte Testament eine „Figur“ (Vorrede 12) des Neuen dar­stellt, während eine unverbindliche Isolierung des 1. Buches Mose „ […] nur eine kindliche Historia […]“ gestalten würde. (43;57) So wird dann etwa der Untergang von Sodom und Gomorrha eine Figur des Jüngsten Gerichts (43;14) und entsprechend imposant ge­schildert, und der Turmbau zu Babel, besonderer Erwähnung wert, zum Kirchen-Bau der Erzhure Babylons, der katholischen Kirche, und nicht nur das:

„Darum ists alles ein unnütz Geschwätz und Creatürliche Bild­lichkeit, daß man fraget, wie heisset GOtt? […] Dieser Streit um die Buchstaben ist wol recht die verwirrete Zunge auf dem hohen Thurne [Turm] der Kinder Nimrods zu Babel, dann derselbe hohe Thurn ist eine Figur der Facultäten der hohen Schulen, da die einige Göttliche Zunge verwirret und in viel Sprachen verkehrt wird, daß ein Volck das ander nicht verstehet, daß man um den einigen GOtt zancket, in dem wir leben und sind […]“(60;47)

Dass weniger, wie in der Bibel (l Mose 11) zu lesen, Gott selber aus der einheitlichen Sprache, derer die Menschen noch fähig waren, die 72 Profansprachen schuf, (vgl. 35;16) sondern die Men­schen sie heraufbeschworen, veranschaulicht Böhme an der Art des Hochhausbaus.

 

Der Turmbau zu Babel als Sprachenkatastrophe


Aus den umfangreichen Erläuterungen zu jeder Erzählung im 1. Buch Mose sei dazu hier ein Beispiel genauer betrachtet. Zunächst die Episode aus dem Alten Testament. Im Kapitel 11 der Genesis heißt es:

„Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut.“

Soweit die Bibel. Die Parabel kann als Warnung vor Hybris und städtebaulichem Größenwahn gelesen werden, und darin ist dieses Motiv auch zu einem der plakativsten aus dem alttestamentarischen Umkreis in der Kunstgeschichte geworden. Ihr ebenso tiefer Sinn liegt jedoch in einer Sprachkritik, auf die Böhme fast ausschließlich eingeht. Warum sprechen die Menschen verschiedene Sprachen? Weil – analog zum strategischen Motto des divide et impera (teile und herrsche) – Gott mit der Maßnahme einer Sprachverwirrung verhindert, dass die Menschen sich gegen ihn zusammenschließen. (1 Mose 11;6) Die Menschen wurden nicht nur in viele Sprachen aufgeteilt, sondern auch in alle Winde verstreut. Ihre für Gott bedrohliche Ballung in Metropolen, in denen ihre Zahl allein schon Frevel, ihre Ansammlung breits verdächtig ist, wird dadurch ebenso verhindert wie ihre allzu einfache Verständigung, die sie zu mächtig machen könnte. Der Handwerker Böhme hat sich diese Kommunikationsvorgänge beim Bau des Turms sehr praktisch und für uns gut nachvollziehbar ausgemalt:

„Einer hat gesagt, man solte Ziegeln zum Bau des Thurnes bringen, der ander Steine, der dritte Kalk, der vierte Holtz, Wasser, oder andere Nothdurft; und derer Werckmeister sind vielerlei gewesen, ein ieder aus der Eigenschaft seiner Zungen, ein ieder hat den Thurn wollen auf seinen Grund der Eigenschaften bauen; einer hat in seiner Landes-Eigenschaft Steine darzu gehabt, der ander Leimen, der dritte Kalck, der vierte Holtz, und hat einem ieden gut gedaucht seyn, daß er den Thurn aus seiner Materia seiner Eigenschaft alleine für sich bauete, zu einem grossen Wunder, auf daß alle Welt darauf sehen soll, was er gebauet habe.

[…] und haben angefangen zu verachten, und den Thurn für sich zu bauen, und den auch gelobet, welcher von andern wieder ist verachtet worden, und haben auch ihre Landes-Materiam für besser gehalten, bis so lange sie sind in der Hoffart und Zanck also uneinig worden, daß sie haben vom Thurn abgelassen, und sind ineinander gefallen, und haben einander über dem Erkentniß des Thurns zu Babel ermordet, getödtet und verfolget […].“ (36;12 f.)

Böhme nennt – alter Überlieferung zufolge – 72 Sprachen, die so entstanden sind. Zu diesen kommen 5 Hauptsprachen (vgl. 29;65), so dass er auch abweichend von 77 Sprachen berichtet. Die 5 Hauptsprachen sind: die Natursprache selbst (siehe unten), dann Hebräisch, Griechisch, Latein, und die „Sprache“ des Heiligen Geistes.[v]

Wie kommen die Zahlen zustande? Von 72 Sprachen und Völkern sprechen weitere Zeugen bereits in der Antike. So müssen laut Herodot 72 Völker an das Weltreich der Perser Tribut zahlen.[vi] Bis ins 17. Jahrhundert hinein gibt es Versuche einer Sprachenliste, deren Länge zwischen 69 und 73 schwankt. Zählt man die Geschlechter in der „Völkertafel“ in 1 Mose 10, also unmittelbar vor der Turmbauepisode aus, ergeben sich ebenfalls etwa 70–72 Stämme. Die Annahme, dass es seit dem Turmbau 72 Sprachen gab (jeweils neu ermittelt auch nach der Entdeckung Amerikas), war zu Böhmes Zeit – wenn auch umstrittenes – Allgemeingut.[vii]

Jacob Böhme gab sich mit einer nur zahlenmäßig erfassten Liste nicht zufrieden und erklärte sich die Zahl von 72 Sprachen im Rahmen seines Systems. Das Alphabet habe 24 Buchstaben, mit denen wir uns im Rahmen der „drei Prinzipien Göttlichen Wesens“ bewegen: Himmel, Hölle, Erdenwelt, und 24 x 3 ergibt 72. (vgl. 35;71) Jeder Buchstabe des Alphabets würde somit drei Mal interpretatorisch zur Verfügung stehen, in freier Kombinatorik ihrer Wortbildungen bei Anwendung der Natursprache.

„[…] wie man das vor Augen siehet, daß man an keinem Orte der Welt unter allen Haupt-Sprachen auf 5 oder 6 Meilen einerley Sensus [Sinn, Semantik] in einer Haupt-Sprache findet; sie verdrehen sich fast alle 5 oder 6 Meilen, alles nach den Eigenschaften desselben  Poli [Gemeinwesen] oder Höhe; was für eine Eigenschaft die Luft hat in ihrem inherrschenden Gestirne [gemeint ist wohl: Regierung], eine solche Eigenschaft hat auch das gemeine Volck in der Sprache.“ (35;75)

Konkret „vor Augen“ konnten Böhme die eigenen politischen Verhältnisse der zersplitterten deutschen Kleinstaaterei stehen, bei denen in der Tat alle 5 bis 6 Meilen ein anderer Zwergenstaat existierte. Eine Kursächsische Postmeile betrug im 17. Jahrhundert ca. 9 Kilometer (vorher regional schwankend).

Wozu benötigt Böhme diese Konstruktion der 72 plus 5 Sprachen? Die 72 Sprachen begründen den defizitären Modus nach der babylonischen Sprachverwirrung als trennendes Element zwischen Völkern. Durch eine Erleuchtung oder Erlangung der wahren Erkenntnis können diese Sprachen überwunden werden. Die Sprache der Überwindung ist für Böhme die Natursprache. (vgl. 35;48) Sie wurde auch gemäß 1 Mose 11;1 vor dem Turmbau gesprochen. Sie wieder zu erlangen, ist Ergebnis der Gotteserkenntnis und der innerweltlichen Schöpfungsvorgänge. Entscheidend für Böhmes Sprachphilosophie ist nun, dass er diese Natursprache auch als „Mutter-Sprache“ bezeichnet, (vgl. 35;61) die Natursprache ist die Muttersprache der Menschheit, die mit Adam im Paradies ihren ersten Sprecher hatte. Doch eines jeden Menschen Muttersprache ist eine nach der Sprachverwirrung korrumpierte, entfremdete. Jedoch in ihrer Bedeutung als Muttersprache eines jeden Menschen kann gerade sie wieder zur Natursprache führen.

Einer christlichen Denktradition zufolge steht mit der Sprachverwirrung zu Babel das Pfingstwunder im Zusammenhang: Das „Zungenreden“ (Apg. 2;4) sei für die Apostel, die vom Heiligen Geist ergriffen worden waren, die Offenbarung der ursprünglichen adamitischen Ursprache, so Böhme:

„Diese gefassete Zunge hat der Heilige Geist am Pfingsttage in S. Petri Predigt wieder eröffnet, da Petrus aus der eröffneten sensualischen Zungen in Einer Sprache alle Sprachen redete; und das war auch Adams Sprache, daraus er allen Creaturen Namen gab.“ (36;7)

Nun reimt sich einiges aufeinander. Die Sprache des Heiligen Geistes im Pfingstwunder ist die durch die christliche Botschaft reaktivierte Natursprache aus paradiesischen Zeiten, die mit dem Turmbau zu Babel endete und in die Sprachverwirrung führte:

„Und hierinnen lieget Mysterium magnum: Lieben Brüder, so ihr nicht das Röcklein der Streit-Sprachen an euch hättet, so dürfte man euch alhie ein mehrers weisen; aber ihr seyd noch alle in Babel gefangen, und seyd Zäncker um den Geist der Buchstaben, und habet dessen doch keinen Verstand, und wollet auch Doctor und gelehrt seyn, versteht aber doch nicht eure Mutter-Sprache: beisset euch um Hülfe des Wortes, darinnen sich das lebendige Wort fasset, und das lebende Wort begehret noch verstehet ihr nicht; Ihr redet nur aus 7 und aus 77 und hättet doch das Wort in Einer Zahl, darinn aller Verstand innen lieget: Ihr habets auf eurer Zungen schwebende, und mögets doch nicht fassen.“ (29;65)

Die Sprache selbst ist daher das säkulare Thema des Werkes „Mysterium magnum“: die Geschichtsphilosophie der Sprachen und des gegenseitigen Verstehens. Von hier aus erklärt sich auch, warum Jacob Böhme die Natursprache auf die deutsche Sprache anwendet, obwohl die deutsche Sprache – dies schließlich wäre eine Frage an Böhme wert – zu den 72 „verwirrten“ Sprachen zählt, die ihm nicht geläufige lateinische Gelehrtensprache aber nicht: Weil ihr Status als Muttersprache dem Philosophus Teutonicus erlaubt, mit ihr, der deutschen, zur Natursprache durchzudringen. Nicht als exklusive oder bessere Sprache ist die deutsche anderen vorzuziehen, sondern indem sie Muttersprache der Sprechenden ist, kann sie zur Natursprache führen, als ihr „Gehäuse“ (28;56) und Durchgang. Die 72 entfremdeten Sprachen können nur Passagen zur adamitischen Natursprache sein.

So entsteht Böhmes Technik, an der Aussprache der Wörter, an ihrem Klang (sensus) Inhalt und natursprachliche Bedeutung abzuleiten. Fast überall im Gesamtwerk, sowohl in der „Aurora“ als auch im Spätwerk, leistet er diese Klang- und Sprechakt-Exegese, nicht zum mindesten an vielen Stellen des „Mysterium magnum“, wo er besonders bei den Geschichten um „Jacob“ davon lebhaften Gebrauch macht.

 

Der Name „Jacob“


Die Erzählung um Jacob und Isaak, den 12 Söhnen Jacobs, unter ihnen Joseph, nimmt gut die Hälfte des 1. Buches Mose ein. Im „Mysterium magnum“ herrschen ähnliche Proportionen: Kapitel 52 bis 78 widmen sich dem Jacob-Joseph-Komplex, mit 360 Seiten Umfang, wobei die Kommentierung der Josephsgeschichte 120 Seiten umfasst und 220 Seiten den Ereignissen um Jacob gewidmet sind. Die Geschichte Jacobs lag ihm am Herzen.

Sie lässt sich als spiegelsymmetrische Parabel um Betrug und Erstgeburtsrecht lesen. Durch Täuschung ergattert Jacob sich das Erstgeburtsrecht und den Segen vor seinem älteren Bruder Esau (1 Mose 25–27), und durch ebensolche Täuschung wird ihm später bei seinem Schwiegervater Laban die begehrte Rahel vorenthalten und stattdessen die weniger geliebte Lea zugeführt, bis er schließlich beide erhält. (1 Mose 29) Die Geschichte erzählt von einem schlauen, an Odysseus erinnernden Helden, mit dem die Identifikation im Kontext christlicher Moralität so leicht nicht fallen kann. Umso mehr Erzählaufwand investiert Böhme, um seinen Jacob genau in dieser Hinsicht zu rechtfertigen, minutiös und Punkt für Punkt, von der biblischen Linsensuppe zur listigen Mimikry. Dabei steht von Anfang an fest:

„Und wann dieses geschicht, so wird Esau, als die Adamische Natur, wol [zuerst] geboren, und kommt allemahl zuerst hervor: Aber Jacob, als der Geist Christi, kommt balde hernach, und nimt dem Esau das Reich und die Gewalt, und machet die Natur zum Knechte; so muß Esau, als die Natur, dem Jacob dienen, als dem Geist Christi.“ (52;33)

Am Beispiel des Namens „Jacob“, besonders geeignet, weil eine Selbstidentifikation des Schreibers mit dem Erzählten zu bemerken ist, sei ein Beispiel zitiert, wie Böhme seine Natursprachenlehre in diesem Kontext anwendet:

„Jacob heisset in der Formung des Namens in der hohen Zungen eine starcke Luft aus der mentalischen Zungen, als aus dem Namen JEHOVA in eine Compaction oder Ens [Gehäuse], da das I das A fasset, und sich im A empor schwinget, und die sensualische Zunge in die mentalische einfasset, als in das COB, daß das O zum Centro des Worts gesetzet wird, da sich der schwere Name GOttes ins O fasset; und wird recht darinnen verstanden, wie sich des Vaters Natur, als der sensualische Geist im A C und B ins I und O fasset; Denn I ist das Centrum der höchsten Liebe, und O das ist das Centrum des faßlichen Worts in der Gottheit, welches ausser aller Natur verstanden wird.“ (52;41)

Böhmes Lautmalerei legt in die Sprechbewegung semantische Gehalte, die zwischen Vokalen und Konsonanten unterscheidet. So korrespondiert das I (oder J) in Jacob mit dem I in „Liebe“, das O in „Wort“ und „Gottheit“.

Nicht so einfach macht es Böhme sich mit dem Erstgeburtsrecht, das sich Jacob von Esau um jene Linsensuppe erschleicht. Diese Linsensuppe ist wichtig. Sie hat eine „röthlichte“ (53;10) Farbe (vgl. 1 Mose 25;30), ebenso feurig wie die Hautfarbe des Esau. Die Linsensuppe verdient daher exegetische Beachtung, weil sie die grobe Naturhaftigkeit des Esau spiegelt, die Jacob – auch in der Bibel – symbolisch überwindet. Im Sinn eines historischen Prozesses kommt Adam (Esau) vor Jesus (Jacob), wodurch die Erzählung um das Erstgeburtsrecht zu einer Parabel mit geschichtsphilosophischer Gewichtung wird. In diesem Sinn wagt Böhme gar den Vergleich der Mutter beider Zwillinge, die Jacob zu dem Betrug anstiftet, mit der Mutter Christi, Maria. (vgl. 55;17) 

Ausdrücklich überblendet Böhme in christlich-scholastischer Tradition das 1. Buch Mose mit den Evangelien: „Darum sollte man die Schrift des Alten Testaments mit hellern Augen ansehen, dann das gantze Neue Testament lieget darunter in der einfältigen Geschicht.“ (60;50)

Diese christologische Inanspruchnahme des Alten Testaments durch das Neue Testament darf nicht nur als Usurpation missverstanden werden, zumal ohnehin der protestantische Laie Böhme es nicht hätte wagen dürfen, das Alte Testament in seinem jüdischen Kontext wertfrei zu belassen. Jacob Böhme überdeckt sein Verständnis des Alten Testaments mit der Folie des Neuen in dem Anspruch, die Erzählungen zu aktualisieren.

Dieser letzte Aspekt könnte zur Motivation Böhmes beigetragen haben, sich überhaupt mit dem 1. Buch Mose noch einmal zu beschäftigen, nachdem er in der „Aurora“ es ja bereits getan hatte. Das Werk, das parallel zum „Mysterium magnum“ Anfang 1623 entstand, war die „Gnadenwahl“, eine Entgegnung auf die calvinistische Prädestinatonslehre. Im Brief von 1623 an den Freund Friedrich Krause, in dem er von seinem Werk „Gnadenwahl“ spricht, antwortet er auch auf Fragen zum Paradies mit Hinweis auf seinen in jener Zeit entstehenden Genesiskommentar.[viii] Er verteidigt gegenüber seinen Gesprächspartnern die Einheitlichkeit der Schrift. Zu dieser Einheitlichkeit zählt für ihn das Alte Testament.

Die Aufteilung in die profanen Sprachen hat den Kampf um Meinungen zur Folge, die Böhme sinnbildlich mit den Buchstaben verbindet, die wiederum „Bilder“ sind:

„Daraus entstehet Wiederwärtigkeit [Gegensätzlichkeit] und Bilder, daß wir das ungeformte Wort haben in Bilder eingeführet: Jetzt streiten wir nun um dieselben Bilder, da ein ieder meinet er habe ein bessers; und wenn man dieselben Bilder alle wieder in Eine Sprache einführet, und die Bilder tödtet, so ist das einig, lebendigmachende Wort GOttes, welches allen Dingen Leben und Kraft giebet, und hat der Streit ein Ende, und ist GOtt alles in allem. […] das lebendige Wort muß das buchstabische Bild tödten.“ (36;40, 65)

Böhmes Unterscheidung in Wort und Bild zielt in die Poetik des „Mysterium magnum“. Die verwirrende Vielsprachigkeit steht gegen das Wort, das sich im Sprachkörper verbirgt wie die Seele in ihrer Complexion, wie die Christus-Gestalt in der Schöpfungssystematik, ergebnisoffen zwischen Gut und Böse, geschichtlich sich bis zur Apokalypse fortwälzend.

Es ist noch eine offene Frage der Forschung, in welchem Maß Jacob Böhme Kenntnisse von der jüdischen Geheimlehre, der Kabbala, oder ihrer Variante als christliche Kabbala erlangt hatte. Nachweisbar enthalten die letzten Werke kabbalistische Vorstellungen.[ix] Für den genauen Stellenwert der Kabbala im „Mysterium magnum“ gibt es bislang keine gesicherten Aussagen, kaum belastbare Vermutungen. Ohnehin würde sie nicht reiner jüdischer Lehre folgen, sondern in Form einer christlichen Inanspruchnahme dieser jüdischen Naturmystik, wie Sibylle Rusterholz den Spuren der Kabbala bei Jacob Böhme nachgeht, jedoch nicht im „Mysterium magnum“.[x] Die Deutung der durch Adams Fall verloren gegangenen fünf Vokale (IEOUA = Jehova), die in der Schrift weggelassen werden, zeugt von Grundkentnissen des Hebräischen:

„Wir haben die fünf Vocales im Alphabet verloren, welche die Geister der Buchstaben alle in eine Harmoney einführen, und die fünf Vocales sind gleich als wie stumm gegen den andern Buchstaben [den Konsonanten], und sind doch der andern Leben, denn es mag kein Wort gebildet werden, es muß ein Vocalis dabey seyn.“ (36;42)

Einen versteckten Hinweis, dass die Lehre der Kabbala hier direkt durchschimmert, geben die Herausgeber der Schriften von 1730. In ihrem Bericht zu den Werken erwähnen sie, dass Böhme die zweite Fassung der Gesetzestafeln, die Mose nach der Zerschmetterung der ersten Exemplare ein zweites Mal herstellen musste,[xi] als „Kugel“ bezeichnete, während sie in der Bibel als Steintafeln beschrieben werden. Der Absatz lautet:

„Weil sie [die Israeliten auf der Flucht vor den Ägyptern] aber ein Kalb und Abgott machten, und von GOtt abfielen, so muste Moses die ersten Tafeln zerbrechen, deutet an den ersten Adam in Göttlichem Gesetze, welcher davon abfiel: So ward ihm dasselbe abgebrochen, und fiel er in Zerbrechung seines Leibes, gleichwie Moses die Tafeln zerbrach, und GOtt Mose eine andere Schrift auf eine Kugel gab. Welche andeutet den andern Adam (Christum) der den ersten solte wiederbringen, und sein Gesetze wieder in seine Kugel des Hertzens, als ins Leben, in die Menschheit einführen […].“ (18;20 f.)

Das Bild dieser Kugel, so die Herausgeber, „rühret her aus mündlicher Conversation mit Dr. Balthasar Walther, der ein gantz viertel Jahr beym J.B. gewohnet, und es ehe dem beym Reuchlino gelesen habe.“ (Bericht V;46) Sodann folgt eine Liste kabbalistischer Autoren, die von feurigen oder weißen Kugeln sprechen, auf die Gott seine Gesetze geschrieben habe. An diesem Detail lässt sich die Anwendung der jüdischen Kabbala auf christliche Kontexte beobachten, da die Relevanz der beschriebenen Kugeln durch ihren Bezug auf das Herz Jesu Christi aufgewertet und umgedeutet wird. Wenn also jüdische Philosophie, Epik, Religion im „Mysterium magnum“ – sei’s begleitet durch kabbalistische Kenntnisse oder nicht – aufgenommen worden sind, dann unter christlicher Anverwandlung. So gelesen, wäre die christliche Folie, die er über das Alte Testament zieht, immerhin eine Schutzfolie.[xii]

 

Friedenssehnsucht


Esau ist dennoch ein braver Kerl. Jacob Böhme weiß das zu würdigen. Kurz nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges fallen daher Sätze wie folgender, mit welchem er den Satz Isaaks, des Vaters, an Esau, „Von deinem Schwerte wirst du dich nähren“ (1 Mose 27;40) kommentiert:

„GOtt will keinen Krieg, sondern das Reich der Natur in GOttes Zorn will den, welcher einig alleine aus dem Reich der Natur geboren ist, der lebet auch [in] demselben.“ (55;45)

Und der arme Esau? Böhme hat viel von der alten antiken Parabel verstanden, wenn er in Esau einen Vertreter niederer Kulturstufen sieht, einen rohen, etwas dümmlichen Jäger und Sammler, der vom schlauen, sesshaft gewordenen Jacob, der feine glatte Hände hat, historisch überwunden wird:

„Aber seine Figur in Adams Natur muß untergehen, und Christus in ihm aufstehen, auf daß von Esau die SAU wegkomme, und er im E, als ein Engel, bestehen bleibe.“ (64;2)

Böhmes Identifikation mit der Gestalt des biblischen Jacob kann zuweilen ergreifende Züge annehmen, so etwa als der alt und störrisch gewordene Jacob in der Bibel seinen Söhnen zunächst verwehren will, zu ihrem Bruder Joseph nach Ägypten zu ziehen. Böhme leidet mit ihm:

„O du armer alter Jacob der kundschaftenden Christenheit! Laß doch deine hungrige Söhne, welche gar mager vor grossem Hunger im Gewissen sind, zu Joseph ziehen […]. O du armer alter Jacob, betrübe dich doch nicht also um zeitliche Dinge: Siehe doch, wie es dem alten Jacob ging, als er seine Söhne ließ alle von sich zu Joseph ziehen […].“ (70;28 f.)

Kaum ist in den Sätzen – etwa im mittleren der eben zitierten – klar, welcher Jacob gemeint ist, der der Erzählung, oder der Schreiber, der doch sehen soll, „wie es dem alten Jacob ging“. Seine Identifikation mit Jacob liegt auf der Linie, die zu Christus führt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in diesen Partien, in denen er vom Hunger des alten Jacob spricht, auf seine eigene Situation als hilfebedürftiger Garnhändler anspielt, gegen den Görlitzer Gegner sich längst zu formieren begannen. Er aber appelliert:

„Ein Bruder soll des andern Arzt und Erquickung seyn, und ihm sein Gemüthe (mit Einfühlung seines Liebes-Willens) stillen. Es wäre alles in dieser Welt genug, wenn es nicht der Geitz in eine Eigenheit einzöge, und seinem Bruder gönnete als ihm selber, und liesse seine Hoffart fahren, die doch vom Teufel ist.“ (24;21)

 

Die gar schöne Figur von Joseph


Der kluge, vom Vater Jacob bevorzugte Joseph wird von den neidischen anderen zehn Halbbrüdern in einen Brunnen geworfen, wieder herausgeholt, als Sklave an eine durchreisende Karavane verkauft, die nach Ägypten zieht. Potiphar, der Schatzmeister des Pharao, kaufte den überaus schönen Joseph, und die Frau des Potiphar versuchte, Joseph zu verführen, allein es gelang ihr nicht. Darüber beleidigt, bezichtigte sie ihn eines Vergewaltigungsversuchs, worauf der Schatzmeister unfroh reagierte und Joseph einkerkerte. Dort pflegte er die Träume der Gefangenen plausibel zu deuten, so dass seine Traumdeute-Kunst sich bis zum Hof herumsprach, wo den Pharao schreckliche Träume plagten. Ihm deutete Joseph die Träume von den sieben mageren und den sieben fetten Kühen als allgemeine Lehre über die staatlichen Regulierungsmechanismen gegenüber gesamtwirtschaftlichen Konjunkturschwankungen, dernach in den sieben fetten Jahren zu sparen sei, damit das Land in den folgenden mageren Jahren vom Ersparten leben könne. Joseph wendete dadurch wirtschaftliche Not von Ägypten ab. Er geriet in hohes Ansehen. In den Nachbarländern äußerte sich diese Klugheit der Ägypter als Inflation, so dass die Teuerung auch Jacob und seine verbliebenen elf Söhne betraf (also die zehn Halbbrüder und Benjamin, der jüngste). Jacob schickte seine Söhne nach Ägypten, denn dort gab es noch Getreide zu kaufen. Joseph, der leitende Volkswirt des Reiches, erkannte sie, stellte sich verständlicherweise stur und hielt sie für eindringende Wirtschaftsflüchtlinge. Dann stellte er sie auf die Probe, verlangte einen Bruder als Geisel, schickte die anderen fort und verlangte, den jüngsten unter ihnen, Benjamin, zu sehen. Über so viel Wissen über Familieninterna irritiert, beriet sich Jacobs Familie, und schweren Herzens schickte Jacob die Söhne abermals nach Ägypten. Endlich gab Joseph sich zu erkennen. Im Rahmen des Familiennachzugs kamen Jacob und seine Enkel nachgereist, und der alte Vater sprach den Segen für jeden seiner Söhne.

Diese längste Episode im ersten Buch Mosis ab 37;1 erzählt von einem gelingenden Leben, das die souveräne Lenkung unerwarteter Schicksalsverläufe demonstriert, denen die Menschen zum Opfer fallen. Doch dem Klugen und Fleißigen, ist er auch noch schlau, spielt das Schicksal, oder Gottes Fügung, in die Hände. Joseph ist schön, klug und gottergeben zugleich, er gibt nie auf und stellt sein Wissen selbstlos zur Verfügung. Zwei Linien waren stets Thema dieser komplexen Geschichte: die kluge Staatsführung sowie die Keuschheit, die sich nicht verführen lässt. Die Josephsgeschichte war im Mittelalter Vorlage zahlreicher literarischer Adaptionen für kleinere Bühnenstücke, zunächst im arabischen Raum, dann in romanischen Ländern.[xiii] Zu Böhmes Zeiten scheint der Stoff literarisch nicht interessant gewesen zu sein. Erst mit Grimmelshausens erstem Roman 1667, „Des Vortrefflich Keuschen Josephs in Egypten Erbauliche recht ausführliche Lebensbeschreibung“, setzte die epische Tradition ein.[xiv] Typisch barock, stattet Grimmelshausen seinen Mustermenschen mit wesentlich mehr aus, als es die Bibel bietet: Während Joseph in der Bibel anfänglich ein verträumter Hirte war, (1 Mose 37;1–8) verfügt er als Junge bei Grimmelshausen über sämtliche zeitgenössische Wissensstandards. Er war …

„[…] ein guter Astronomus und Mathematicus, und verstunde die Magia oder vielmehr die Philosophia naturalis vollkommen neben dem Ackerbau. Der Menschen und Thier Eigenschaften wuste er / und konte derselben Gebrechen durch Arzneymittel leichtlich wenden / wie dann auch seine Brüder von dergleichen Wissenschaften bey ihnen höreten täglich Philosophieren / aber ihme allesamen bey weitem das Wasser nicht reichen konten / wie wol er deren eilff [Brüder] hatte.“[xv]

Böhme nun hält sich bei den Erzählelementen mehr an die Bibel als Grimmelshausen, wenngleich die Interpretation einzelner Details ähnlich breit ausgerollt wird, und mehr und wichtiger noch unter der Signatur intensiver christlicher Umdeutung. Über Kenntnisse und Charakter des Knaben schreibt Böhme etwa:

„Darzu sehen wir gar schön, wie sich der Geist GOttes im Joseph geoffenbaret, und ihme die Figur seiner Constellation gedeutet, daß er könte Träume und Gesichte verstehen, auf Art, wie die Propheten im Geiste Christi Gesichte sahen, und sie deuten konten, also auch Joseph.“ (64;19) „Joseph mit seinem bunten Rock war ein Jüngling, darzu noch zart und jung, und hatte noch nicht der Welt Witz und List, und sagte in Einfalt die Wahrheit, denn seine Seele war noch nicht von aussen mit der List der Lügen befleckt, und der Geist GOttes hub an ihn zu treiben, denn ein bunter Rock war eine Figur des Innern.“ (64;36)

Dieser Jugendliche scheint beinah glaubwürdiger als der bei Grimmelshausen, selbst der „bunte Rock“, der in der Bibel vorkommt (1 Mose 37;3), passt zu diesem romantisierten Jüngling. Gewiss hat Böhme nicht geahnt, dass er mit seiner ausgiebigen Joseph-Deutung gut vierzig Jahre vor Grimmelshausen ein literarischer Avantgardist war. In der hier gebotenen Kürze können schwerlich alle Aspekte dieses komplexen und umfangreichen Werkes auch nur angerissen werden. Um einige zu interpretieren, verzichtete ich auf Darlegung anderer. Das Werk durchweht eine epische Friedenssehnsucht, die sich an den Skandalen des Erzählten immer wieder entzündet. Wie die größten Epen parallel zu Kriegen entstanden, indem sie sich nach Frieden sehnen, oder von beiden handeln, so besteht Böhmes Übersetzungsleistung in der Hoffnung, die er mit jedem Skandalon im 1. Buches Mose verbindet: „Die rechten Christen führen keinen Krieg.“ (30;42)

 

[i] Baader, „mit besonderer Beziehung auf […] Mysterium Magnum“ geht nicht auf die Besonderheiten dieses Werkes ein. Vgl. S. 159-236
[ii] Vgl. Klibansky
[iii] Illouz S. 77
[iv] Vgl. zur Androgynie: Benz3 Einleitung
[v] vgl. auch Pan 7;6-11, 35;16-18. Grundlegend dazu vgl. Bonheim1 S. 262 – 265
[vi] Historiae 2;181. Vgl. zu diesen und den folgenden Zusammenhängen: Borst, Über Jacob Böhme: Band III/1 S. 1342 ff
[vii] Vgl. die Sprachenlisten bei: Borst, Band II/2 S. 931-952
[viii] Vgl. EP 39 und 40
[ix] Vgl. Ausführungen zu OF
[x] Vgl. Rusterholz2 S. 15-46
[xi] 2 Mose 34;1 und 4 Mose 10;1
[xii] Diese Hintergründe zur strategischen Ausrichtung der Schriften Böhmes sind freilich spekulativ und wären noch Thema der Forschung
[xiii] Vgl. Frenzel S. 372 ff
[xiv] So Breuer S. 182
[xv] Vgl. Grimmelshausen

 

Entstanden 1623
Umfang: 896 Seiten, Sämtliche Schriften Band 7 und 8.
Überliefert in mehreren Abschriften. Zur Zeit beste Ausgabe: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Will-Erich Peuckert/August Faust. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Siebter und Achter Band. Stuttgart: Friedrich Frommanns Verlag, 1958.

Kontakt Partner Impressum Datenschutz Button - Nach oben scrollen