Warum das vergleichsweise knappe Werk eine „Trostschrift“ ist, geht aus dem Untertitel hervor: „Von den Ursachen der Furcht oder Traurigkeit, und was das Entsetzen oder die Angst sey“, und genau von diesen seelischen Zuständen möchte das Werk Böhmes befreien. Die vier „Complexionen“, wörtlich „Behältnisse“ oder, modern gesagt, Typen und Konstitutionen der Seele, kennt die frühere, auch von Paracelsus beschriebene Humoralpathologie des Menschen als den Choleriker, den Sanguiniker, den Phlegmatiker und den Melancholiker. Ihnen allen werden seit der Antike Charaktereigenschaften zugeschrieben, von denen sich die Seele befreien kann, soweit es sich um nachteilige oder gar krankhafte Eigenschaften handelt, um zu sich selbst zu gelangen. Der Unterschied zu unserem Seelenbegriff liegt darin, dass modernem Verständnis zufolge die Seele körperlich konstitutive und individuelle Ausprägungen hat, in der Frühen Neuzeit, und so auch bei Böhme, sah man die Seele als Gottesfünkchen oder Auge, das von den Konstitutionen und Krankheiten gefangen gehalten wird: Dieses Gefängnis ist die „Complexion“.
Für das Verständnis von Böhmes Gedankenwelt ist aufschlussreich, dass die Erörterung des melancholischen Typs den mit Abstand größten Raum einnimmt. Daraus und aus weiteren Aussagen Böhmes ist geschlossen worden, dass sich Böhme selber als Melancholiker verstand, den die “Erleuchtung” von dieser Erkrankung geheilt hätte.
„In keiner Complexion wird des Teufels Wille sehrer offenbar (…) als in der Melancholischen, wie die Angefochtenen wol wissen.“ (Nr. 37) „Der Teufel wirft den Melancholischen Menschen immer gerne ihre Sünde für, giebet für, sie mögen nicht GOttes Gnade erlangen, solle nur verzagen, sich erstechen, ersäuffen, erhencken, oder einen andern ermorden, daß er nur einen Zutritt in die Seele bekomme, denn er darf und kann sie sonst nicht anrühren.“ (Nr. 41)
„Die melancholische Complexion grübelt viel und das ohne Ausweg, sie ist „finster und dürre, giebet wenig Wesenheit, sie frisset sich in sich selber, und bleibet immer im Trauer-Hause; wenn gleich die Sonne in ihr scheinet, ist sie doch in sich traurig, bekommt ja von der Sonnen Glantz was Erquickung; aber in der Finsterniß ist sie immer in Furcht und Schrecken vor GOttes Gericht.“ (Nr. 8)
Der entscheidende Satz Böhmes lautet: „vor der Zeit meiner Erkenntniß war mir eben auch also, ich lag im harten Streit, bis mir mein edles Kräntzlein ward, da lernete ich erst kennen, wie GOtt nicht im äussern fleischlichen Hertzen wohne, sondern in der Seelen Centro, in sich selber.“ (Nr. 79)
Die Planetenzuordnung der Melancholischen zu Saturn, die Böhme an vielen Stellen trifft, zeigt seine Kenntnis der frühneuzeitlichen Auffassung, dass gerade der melancholische Typ der edlere unter den Complexionen sei und daher auch der erlösungsnahe, wie auch Albrecht Dürer und andere Künstler dieser Zeit sich selber verstanden haben. (Vgl. auch die Schrift „40 Fragen von der Seele“)
Umfang: 31 Seiten, Sämtl. Schriften Band 4.
Überliefert in mehreren Abschriften. Zur Zeit beste Ausgabe: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Will-Erich Peuckert/August Faust. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Vierter Band. Stuttgart: Friedrich Frommanns Verlag, 1957.