Der mit gut 30 Seiten relativ kurze Text ist ein Dialog, bei dem Meister und Jünger ein Lehrgespräch führen. Der Gesprächsverlauf ist monolinear, ohne Physiognomie der redenden Figuren oder rhetorische Rafinesse, ohne die für Böhme sonst so typischen Ausbrüche in emphatische Drastik, ja steril wie das festgefügte hierarchische Verhältnis zwischen beiden Rollen, keine Peripathien, keine kommunikative Emotion. Wie zwei Ordensbrüder im Kreuzgang eines Klosters und fremd gegenüber Böhmes Lebenswirklichkeit im Görlitz des beginnenden Dreißigjährigen Krieges wirken Meister und Jünger wie aus dem Mittelalter. Weltflucht, auch sie untypisch für Böhme, steht wie ein Emblem über dem Besprochenen.
Die Bezeichnung „Meister“ und „Jünger“ markiert eine Rollenfestschreibung, der das Frage- und Antwort-Spiel nicht entrinnt. In einzelnen Formulierungen dieses wenig dramatisch ablaufenden Gesprächs, das eher einen Frage- Antwort-Mechanismus darstellt, finden sich aufschlussreiche Formulierungen, die typisch nicht nur für Böhmes mystische Seite ist, sondern auch für eine Tradition deutscher Mystik, die bis auf Meister Eckhart zurückgeht,(1) derart diesem nah, dass man kaum an einen Zufall glauben mag, wenn der Weise hier „Meister“ heißt.
„Der Jünger sprach: Ist das (übersinnliche Leben – TI) nahe oder ferne? Der Meiser sprach: Es ist in dir; und so du magst eine Stunde schweigen von allem deinem Wollen und Sinnen, so wirst du unaussprechliche Worte Gottes hören.“ (Nr. 1)
Nur in der intimeren Situation einer direkten Belehrung kann „über“ das Schweigen gesprochen werden, denn schreibend kann man nicht „schweigen“. Daher fällt das Wort vom Schweigen und vom Unaussprechlichen bei Böhme selten, jedoch gut platziert in einem fingierten Gespräch, wie hier. Bemerkenswert ist, dass nicht unaussprechliche „Wahrheiten“ genannt werden, sondern in einer contradictio in adjecto unaussprechliche Worte, als sei nicht ein erstes Kennzeichen von Worten, eben aussprechbar zu sein; Böhmes Natursprachenlehre lässt daran in anderen Werken keinerlei Zweifel. Hier jedoch wird sie nicht angewendet.
„Der Jünger sprach: Was ist die Liebe in ihrer Kraft und Tugend, in ihrer Höhe und Grösse? Der Meister sprach: Ihre Tugend ist das Nichts, und ihre Kraft ist durch Alles. Ihre Höhe ist so hoch als GOtt, und ihre Grösse ist größer als GOtt; wer sie findet, der findet Nichts und Alles. (…)
Der Jünger sprach: Lieber Meister, sage mir doch, wo wohnet sie im Menschen? Der Meister sprach: Wo der Mensch nicht wohnet, da hat sie ihren Sitz im Menschen.
Der Jünger sprach: Wo ist das, da der Mensch in sich selber nicht wohnet? Der Meister sprach: Das ist die zu Grund gelassene Seele, da die Seele ihres eigenen Willens erstirbt, und selber nichts mehr will, ohne was GOtt will.“ (Nr. 26ff)
In diesem Dialog, wie überhaupt in den kleinen Schriften Böhmes, ist kaum von der gewaltigen Architektur etwa der Qualitätenlehre die Rede, die Schriften haben dafür einen Einführungscharakter und nehmen Rücksicht auf den allgemeinen Lesehorizont seiner Zeitgenossen. Schwierige Fragen belässt der Dialog im Arcanum. Dafür verwendet insbesondere dieser Dialog eine Sprache, die uns aus der Tradition eben Meister Eckharts bekannt ist, auch in den Neologismen, Wortschöpfungen, die sich bemühen, wiederzugeben, was normale Worte aus unserem – seis akademischen, seis alltäglichem – Vokabular nicht möglich ist: etwa die „Deinheit“ (Nr. 24) als Kennzeichnung der Situation im Dialog, um dem anderen seine „Ichheit“ zu benennen. Bei Böhme kommt das Wort nicht weiter im Werk vor. Den Dialog durchzieht ein Raster krasser, formelhafter Antithetik:
„Der Jünger sprach: Lieber Meister, sage mir doch, wo wohnet sie (die himmlische Liebe – TI) im Menschen? Der Meister sprach: Wo der Mensch nicht wohnet, da hat sie ihren Sitz im Menschen.“ (Nr. 28)
„Der Jünger sprach: Lieber Meister, ich kann nicht mehr ertragen, das mich irret; wie mag ich den nähesten Weg zu ihr finden? Der Meister sprach: Wo der Weg am härtesten ist, da gehe hin, und was die Welt wegwirft, des nim dich an; und was sie thut, das thue du nicht: Wandele der Welt in allen Dingen zuwieder, so kömmst du den nächsten Weg zu ihr.“ (Nr. 34)
„Der Jünger sprach: Warum lässet es dann GOtt in dieser Zeit geschehen, daß solcher Streit ist? Der Jünger (sic – gemeint ist der Meister – TI): Das Leben stehet im Streite, auf daß es offenbar, empfindlich, findlich und die Weisheit schiedlich, und erkant werde: Und dienet zur ewigen Freude der Überwindung.“ (Nr. 57)
So innerlich manche Wendung auch sei, als Einführung ins typisch Böhmesche Denken ist dieser Dialog wenig geeignet. Qualitätenlehre, Signaturenlehre, Paracelsisches, sonst fast überall bei ihm präsent, kommen in diesem Dialog nicht vor. Er zeugt jedoch von der Nähe des barocken Böhme zur mittelalterlichen Tradition der Mystik.
Anmerkung:
(1) Vgl. aus der umfangreichen Literatur zu dieser Tradition z.B. Alois M. Haas: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik. Frankfurt / Main 1996. Günther Bonheim: Denken am Rand des Verzweifelns: Meister Eckhart, Jacob Böhme und die Vernunfttheologie der Sozinianer. In: Hermann-Josef Röllicke (Hg.): Denken der Religion. Vorträge 2003 bis 2008 des „Lehrhauses für das Denken der Religion“ am EKŌ-Haus der Japanischen Kultur, Düsseldorf. München: Iudicium, 2010, S. 75-98.
Umfang: 31 Seiten, Sämtl. Schriften Band 4.
Überliefert in mehreren Abschriften. Zur Zeit beste Ausgabe: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Will-Erich Peuckert/August Faust. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Vierter Band. Stuttgart: Friedrich Frommanns Verlag, 1957.