Rezensionen

Rezension Melzer Nach der Morgenröte

Nach der Morgenröte ist vor der Abenddämmerung

Mystikforscher können komische Kauze sein. Sie beugen sich über alte Bücher oder Handschriften, und sie nehmen die teuren Seiten in die Hand, wie Goldsucher ihre flache Goldpfanne vorsichtig schwenken, in gespannter Erwartung, endlich jubelnd auszurufen, wenn sie Gold gefunden haben: Ein Manuskript, das noch niemand edierte, ein gefundener Schriftzug, der der Feder aus der Hand eines großen Mannes entfloss, das letzte Druckexemplar einer ehemals epochemachenden Predigt. Der Mystiker mag von geistigen Kräften angespornt gewesen sein, die die Finger zittern ließen beim Schreiben. Die alten Ketzer und Visionäre waren Seismographen der Erdbeben Gottes, ihre ekstatische Schrift gleicht den gezackten Ausschlägen der Tintenlinien auf der Richterskala. Diese über die Jahrhunderte getrockneten Blätter als erster zu entziffern, gewährt Historikern eine Seligkeit, findiger als die Kollegen zu sein. Das ist die Formel dieser seltsamen Konstellation: Textsucher studieren die Blätter von Gottsuchern. Kann es einen größeren Widerspruch geben? Ähnlich fragend beginnt dieser Roman:

 

>Im alten Bibliothekssaal, der heute Museum und Ausstel­lungsstück in einem ist, saß ein Mann Anfang Vierzig. Hauke Lescher, der - wurde er nach seiner Profession gefragt - gern mit Privatgelehrter geantwortet hätte, dies aber wegen der mit­schwingenden Weltfremdheit des Bezeichneten nur in Aus­nahmefällen wagte, hatte sich hierhin zurückgezogen. Den ganzen Vormittag hindurch hatte er im modernen Lesesaal der Akademie alte Bände des Neuen Lausitzischen Magazins durchgeblättert, bis das hygroskopische Papier seine Hände schmerzhaft ausgetrocknet hatte. Dabei war es nicht geblie­ben. Während er die Hände eincremte, hatte sich ohne Vorwarnung die - leicht modifizierte - Frage Schillers in sein Hirn gebohrt: Zu welchem Ende studiert der Mensch Regio­nalgeschichte ?

Aus dem Saatkorn des Zweifels wuchs in seinem Kopf die niederdrückende Sinnfrage heran: Weshalb studierte man überhaupt Gegenstände, die sich einer Nutzanwendung nicht nur vorerst sondern prinzipiell entzogen? Aus denen sich kaum je Bargeld gewinnen ließ, wenn man einmal die seltenen Autorenhonorare gutmütiger Verleger nicht zählte?

Lescher gestand sich ein, niemandem überzeugend darle­gen zu können, welche Not seine Studien linderten, ja, dass er selbst nicht verstand, wieso er sie betrieb.< (S. 6 f.)

Gemeint ist eine Bibliothek in Görlitz, den Jacob-Böhme-Kennern wohlbekannt. Diese Passage zu Beginn des Romans von Wolfgang Melzer über heutige Rara-Jäger und Szenen aus Jacob Böhmes Alltag habe ich gerne gelesen, und sofort verloren sich meine Blicke  irgendwo im Raum, und das Buch rutschte mir aus der Hand. Die Frage, zu welchem Ende von uns Privatgelehrten Mystiker-Texte studiert und erforscht werden, an deren religiösen Inhalt wir kaum noch glauben, in des gläubigen Sinn des Wortes, bohrt mir wie Schillers Frage ins Hirn, dass es schmerzt. Gibt der Roman von Wolfgang Melzer eine Antwort? Stillt er den Schmerz? Nein. Es geht in dem Roman um die Beziehung des oben zitierten Privatgelehrten zur Nichte eines geheimnisvollen Mannes, die „Clio“ heißt und wie eine Allegorie zwischen der gleichnamigen Muse der Geschichtsschreibung und der platonischen  Sophia den Hauke Lescher zunehmend betört. Man vernimmt Gerüchte über einen unbekannten Brief Jacob Böhmes, die Suche führt zu Antiquariaten in Breslau und anderswo, man gerät in Kreise um mystische Bruderschaften, etwa der realhistorischen der Engelsbrüder, die sich sehr um die Sammlung von Böhme-Handschriften verdient gemacht haben. Dann aber auch begegnet ihnen eine ulkige Bruderschaft in spitzen Zipfelmützen, die in der Nacht herumtanzen und erdverbundene Laute ausstoßen und sich von den beiden Manuskriptjägern aus irgendeinem Grund filmen lassen. Eine Pegida-Verballhornung, möchte man meinen, ich habe es nicht ganz verstanden. Im Wechsel der Kapitel erzählt Melzer die Geschichte der beiden Manuskriptjäger und Szenen aus der Biographie Jacob Böhmes. Die Gegenwart wird im Imperfekt erzählt, die Historie um Böhme im Präsenz. Das ist ein gelungener grammatischer Zoom, um die alten Zeiten uns näher zu holen. Während es jedoch in der Gegenwarts-Schicht konspirativ knistert vor geheimnisvollen Bünden, von denen man nicht recht weiß, was von ihnen zu halten ist, bleibt die Böhme-Schicht sachlich und unmystisch.

Die Gegenwart erfährt heftige, aber konservative Kritik: Das Internet wird platterdings kritisiert, weil es die Kunden von der Straße weglockt, und Clio’s Anziehungskraft wird in einem inneren Monolog verraten:

 >Wieso fragt mich dieser Lescher, was mein Geheimnis ist? Mein Geheimnis ist, dass ich kein Geheimnis habe. Aber das muss ich geheim halten, denn, wenn du schön bist, lockst du alle an; bist du geheimnisvoll, nur die Mutigen. Die Helden der Oberfläche, die Schönlinge, schreckst du damit ab. Sie ah­nen Verstand und gehen auf Distanz. Dann doch lieber jene ködern, die in die Tiefe gehen wollen, die sich auch einmal in etwas verbeißen, was nichts mit Geldverdienen zu tun hat; die Sammeln langweilig finden, egal ob es um Geld, Ansichtskar­ten, Geschlechtspartner geht. Dafür ist ein Geheimnis gut.

Aber wieso fragt er mich, was mein Geheimnis ist?

Was ist denn sein Geheimnis?! Dass er mich noch nicht nach dem Tattoo gefragt hat wie die anderen alle?! Weiß er's? ihm egal?< (S. 136)

 Diese Reflexionen der Muse Clio geben das Geheimnis des Romans wieder, in dem seine Form versteckt, dass der Inhalt keines habe. Die beängstigende Montage von „Geld, Ansichtskarten und Geschlechtspartnern“ ist nicht lustig. Es entsteht der Verdacht, die Flucht zur Welt Jacob Böhmes diene einer Kritik der unübersichtlich gewordenen Gegenwart. Die Tiefe mystischer Erzählschichten wird zuweilen von allzu flachen Urteilen dementiert. So heißt es über Berlin:

 >Auf der Fahrbahn rollte dicht an dicht der abendliche Be­rufsverkehr, auf dem Gehsteig tummelte sich das zusammen­gewürfelte Volk eines Berliner Kiezes. Mütter mit Kinderwa­gen spazierten ohne Ziel, Angestellte hetzten nach Hause, ein Grüppchen hochhackiger Sekretärinnen hatte etwas aufregen­des vor, ein Penner mit bauchigen Plastiktüten durchsuchte die Abfallkörbe nach Flaschen und Büchsen. Vor dem kleinen italienischen Eisladen leckten muslimische Kinder an Eiswaf­feln und beim Türken an der Ecke verdrückten Handwerker Dönerteller zum Feierabendbier.< (S. 201)

 

Warum haben die Mütter in Berlin kein Ziel? Wieso ist Volk „zusammengewürfelt“? Hetzen Angestellte in Berlin immer, und in Sachsen nie? Natürlich darf der Penner neben den Sekretärinnen als Kontrapunkt nicht fehlen, und Signalworte wie „muslimisch“ oder „Döner“ zeigen an, dass der Erzähler sich in Babel nicht zuhause fühlt. „Hochhackige Sekretärinnen“ sind denn auch in Berlin nicht bekannt, allenfalls ihre Schuhe sind hochhackig. Wie geht die Geschichte aus? Den Böhme-Brief gibt es am Ende nicht mehr, wer hätte es anders erwartet, an Clio war kein Rankommen, und das beides enttäuscht die Hauptfigur derart, dass sie den Spaß, in der schönen Görlitzer Bibliothek als Privatgelehrter zu forschen, verliert.

 

>Das Thema Böhme und die Alchimie ließ ihn kalt, inspirierte ihn nicht mehr. (…) und er floh aus der Bibliothek, die zum Un-Ort geworden war. In einer Konditorei nicht weit davon deckte er sich mit zwei Schlesischen Mohntorten ein und verließ die Stadt, ohne sich umzudrehen, (…) Görlitz sah ihn nie wieder.< (S. 417 f.)

 

Schade. Der Roman berührt mich an einer wunden Stelle. Er beschäftigt mich, und deshalb schreibe ich hier über ihn. Seine Eingangsfrage: Warum betreiben wir Geschichte, insbesondere Mystik-Geschichte, beantwortet der Romanverlauf und sein Ende mit Frustration. Eine Ent-Täuschung ist immer auch das Ende einer Täuschung. Die Handlung sollte den Privatgelehrten wohl vor seiner Sinnkrise bewahren, und führt ihn nur umso tiefer hinein. Wer alten Manuskripten nachjagt, um mystische Abenteuer zu erleben und die Liebe einer mignonähnlichen Frau zu gewinnen, bringt sich um jede Liebe zur Sache, weil er sie nie besaß. Daran rächt sich der Schluss des Romans, indem er sich von der Görlitzer Bibliothek und mit ihr von der „Regionalgeschichte“ abkehrt. Der Romanstoff rächt sich am Erzähler, weil dieser zu burschikos darüber urteilt, worüber jener melancholisch werden lässt: die Vergeblichkeit der Mystik, ihr historisches Umsonst, ihr Prinzip Hoffnungslosigkeit.

Der Historiker der Mystik leistet Trauerarbeit, um den Verlust des Vergangenen durch Bewahrung und Andenken, durch Musealität und Muse in die Botschaft umzuwandeln, dass die Geschichte weitergeht, und immer weiter geht. Historisch gewordene Mystik hat ihren göttlichen Atem ausgehaucht, und vor dem Historiker liegt noch die Schlacke aus Text und Worten, die einst Welten schufen. Wir hauchen unseren Atem hinein und halten das Feuer der Mystik wenigstens warm. Ihre Schönheit schimmert in der Dämmerung täglicher Morgenröten.

 

Wolfgang Melzer: Nach der Morgenröte. Jacob-Böhme-Roman. Verlag Gunter Oettel, Görlitz 2016. ISBN: 978-3-944560-33-5. 418 Seiten. 19,80 €

 

Thomas Isermann
 



 

 

 

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